Melancholische Beobachtungen über’s Denken,

leider nicht von mir, aber ganz in meinem Sinne:

“Der bedeutende Denker (…) wäre jener, der eine entscheidende Einsicht oder Idee hat und sie ausschöpft, der eine maßgebliche Entdeckung macht, einen zentralen Zusammenhang sieht; der fast “habsüchtig” in einen Denkakt, eine Beobachtung und den darin enthalteten Keim investiert, das volle Potential nutzt. (…)

Wohingegen die große Mehrheit der Menschen, selbst wenn sie, sozusagen im Vorübergehen, von erlesenen Gedanken oder grundlegenden Beobachtungen gestreift sind, diesen keine Beachtung schenkt, weder zugreift noch übergeht zu ihrer Umsetzung. Wie viele Erkenntnisse gehen verloren in der gleichgültigen Flut unbeachteten Denkens, im ungehörten oder überhörten Selbstgespräch der täglichen und nächtlichen Hirnemissionen?

Warum sind wir nicht in der Lage, die möglicherweise fruchtbare Spannung, die von den immer wachen Bögen und Synapsen unserer geistigen Natur erzeugt wird, zu fassen und sie – wie bei einer elektrischen Batterie – in konzentrierter Form, als Potential, zu speichern? Es ist genau diese unendlich verschwenderische Erzeugung, für die wir bisher keine Erklärung haben. Der Verlust ist maßlos.”

(Auszug aus: George Steiner “Warum Denken traurig macht”, Suhrkamp 2006)

Hach!

Nachtrag

Ein weiterer Beweis für die manipulative Kraft der großen Geste: Ich hab eine Passage aus dem vorigen Beitrag gestrichen. Die Sache über die RAF, die Kopftuchträgerin und die Selbstmordattentäter. Hatte nachträglich den Eindruck, mit den paar Zeilen, schon gar im gleichen Absatz, könne ich das nicht abhandeln, würde dem Einsatz nicht gerecht, der auf der handelnden Seite gemacht wird.
Wie kann man aber auch freimütig (tolles Wort) über Menschen nachdenken und schreiben, die das Gewicht ihrer eigenen Existenz dazu verwenden, ihre Haltung zu manifestieren? Die sich und andere auslöschen, um Veränderung zu bewirken?
Da der Einsatz so verdammt hoch ist, fühlt man sich genötigt, auch in der eigenen Reaktion und Bewertung großes Gewicht zu entwickeln. Das ist wohlkalkulierte emotionale Erpressung.
Mein Denken ist eines, das sich im abwägenden zuhause fühlt, ich kann’s nicht leiden, wenn man mir Felsbrocken ins Gelände wirft und dennoch liegen sie überall herum. Jeder Bauer weiß, dass die wegzuräumen sind, bevor das Feld –

Die große Geste

Eine kurdische Politikerin sollte vereidigt werden als neue Abgeordnete im türkischen Parlament, erzählt meine Freundin X. Ihren Eid hatte sie auf kurdisch gesprochen, wohl wissend, dass ihre Sprache in diesem Zusammenhang verboten und ein Tabubruch war. Gleich danach wanderte sie ins Gefängnis, wo sie seit acht (!) Jahren inhaftiert ist.
Imponiert mir nicht sehr, sage ich, jetzt sitzt sie im Knast und kann für ihre Landsleute nicht mehr das geringste ausrichten. Hätte sie nicht besser daran getan, die türkische Regierung nicht wegen akuten Gesichtsverlusts in Zugzwang zu bringen und stattdessen zu versuchen, in parlamentarischer Arbeit die Anliegen ihrer Landsleute zu vertreten?
Nein, wäre es nicht, sagt X. Man braucht die Schaffer, und man braucht diejenigen mit der großen Geste: Sie öffnet Räume, die andere dann besetzen können. Selbst wenn die mit der großen Geste unsympathisch wirken.

Unsympathisch wirken? Interessant. Ja, warum eigentlich? Warum ist mir die große Geste so schwer verdaulich? Die Frage ist, welche Hebel man zur Verfügung hat, um die eigene Auffassung in der Welt zu manifestieren? Ich will diejenigen außen vor lassen, die, aus welchen Gründen auch immer, weder den Weitblick noch die geistigen Voraussetzungen besitzen, sich ihrer Alternativen bewusst zu sein. Vielleicht, weil sie schlicht keine haben. Über die existenziellen Entscheidungen dieser Leute kann ich überhaupt nichts sagen.

Wohl aber über meine. Ich empfinde eine Art Hassliebe für die große Geste.
Als Schröder zum Beispiel sagte, Putin sei ein lupenreiner Demokrat: Jeder wusste, das konnte nicht stimmen, auch Schröder selbst musste es wissen, Männerfreundschaft hin oder her. Warum hat er’s also gesagt? Und warum ist dieser Satz immer noch präsent im kollektiven Gedächtnis, während andere, weit bessere, klügere, längst verschwunden sind?
Die großen Gesten – auch unsere westlichen – entwickeln eine unverwechselbare Art von Energie. Man könnte sie fast magisch nennen. Die Erinnerung daran (und man muss sich natürlich klar sein, dass nur das zählt: In welcher Form sich Handeln im Gedächtnis ablegt. Denn wie viele Leute sind schon live dabei, wenn eine große Geste gemacht wird? Sie entsteht erst in der Rekonstruktion) – die Erinnerung daran ist meistens mit Genuss verbunden.
Man freut sich daran, dass diese ‚Popstar-Erinnerung’ so klar konturiert ist. Dass man auch im Rückblick noch weiß, welche Meinung man dazu hatte. Die Geste hat zum Zeitpunkt ihrer Ausführung polarisiert und tut dies auch Jahre später noch. Das ist ihre Verführung: Sie lässt sich gut merken; sie behält ihre Kontur. Angela Merkel fährt während Schröders Regierungszeit zu Busch, um zu signalisieren, dass ihre Partei und damit (vermeintlich) die Hälfte des deutschen Volkes die „Keine Panzer im Irak“-Politik der SPD nicht mitträgt. Ich fand ihr Verhalten damals abstoßend. Gemerkt habe ich es mir aber, im Gegensatz zu vielen Entscheidungen, die sie seitdem getroffen hat.
Meine Hassliebe für die große Geste: Eifersucht auf ihre Prägnanz und Nachhaltigkeit, Ablehnung angesichts ihres vereinnahmenden Wesens. Denn sie spricht zu oft für viele, sie repräsentiert. Und ich frage mich immer, ob die Mitrepräsentierten überhaupt gefragt worden sind, ob sie das wollen.

Welche Mittel stehen uns zur Verfügung für ein solches Superzeichen des Verhaltens, als Privatpersonen? Für welchen Kontext wäre es wünschenswert? Leute wie ich schreiben. Die große Geste fordert aber Vereinfachung – und die Fähigkeit, Erwägungen rechts und links, oben und unten auszublenden. Nur so wird Zuspitzung möglich. Natürlich kann man den Körper als Verstärker benutzen. Besonders auffällig sein, besonders schön oder hässlich, besonders trainiert oder manipuliert, besonders laut. Oder tausend andere Sachen. Doch solange der Körper nicht öffentlich einhergeht mit der Botschaft, das heißt gleichzeitig mit der Botschaft präsent ist, nutzt er nicht viel.

(to be continued)

Die Alten.

Vorgestern in Polylux tv: Ein ironischer Beitrag über „Altershipness“: Leute in Jeans, coolen Sneakers, Laptoptasche über der Schulter. Man geht hinter so einem Kerl her, sagt die flutschige Moderatorenstimme, sieht super aus von hinten, man denkt sich, hm, könnte interessant sein. Dann läuft man an ihm vorbei und – bärg!!! – das Gesicht! Schon Mitte vierzig, oder sogar fünfzig. Altershipness-Alarm. Wenn man sie fragt, was sie machen, heißt es weiter, sind die Altershippen entweder irgendwas mit Werbung, in ein Galerieprojekt verwickelt, oder, zu achzig Prozent, verbringen sie ihre Zeit damit, im Internet ihren Namen zu googeln.
Ups, lustig, erwischt! Mach’ ich alles auch. Und, klar, Polylux hat eine junge Zielgruppe. Abgrenzung ist was feines. Deswegen jetzt auch von Tainted Talents ein offizielles Statement: Ich hab’ nichts gegen junge Leute. Sollen sie jung sein, straffhäutig und unverfroren wie die Könige.
In meinem Revier allerdings stelle ich immer wieder fest, dass es die Älteren sind, die meine Neugier wecken. Was ist schon groß dabei, wenn man zwischen zwanzig und dreißig gute Ideen und einen knackigen Arsch hat? Zwischen dreißig und vierzig kann einem dann eh kaum jemand etwas anhaben, wenn das Psychokorsett nicht allzu löchrig ist. Ab dann? Wird’s spannend.
Bis dahin hat man nämlich gemerkt, was ein Haushalt ist. Und damit meine ich nicht die Wohnung. Ich mag diesen Ausdruck in den Augen, der mir sagt, dass jemand weiß, was scheitern und wieder anfangen bedeutet. Was können mir schon Leute in die Wagschale werfen, die gerade mal den ersten Versuch der Selbst-Positionierung hingemanscht haben?
Also, nichts gegen die Jungen. Aber spannender sind oft die schon lange im Rennen befindlichen. Die dosieren können. Und die einem nicht wegen jeder Hierarchie- und Identitätsklärung gleich wie die Terrier ans Bein gehen. Sorry, Polylux –

Erweiterung der Knautschzone

Jedes Mal, bevor ich loslege, überlege ich, wie privat meine Sachen werden dürfen, und müssen, um interessant zu sein – und wie diskret sie zu sein haben, um eine gewisse Haltung bewahren zu können: Angesichts der unzähligen online-Schreiber, die ungeniert ihr Privatleben teilen. Wenn nicht schlimmeres.
In den ersten Jahren nach meinem Studium habe ich öffentlich aus meinem, na ja, nennen wir’s ruhig Tagebuch, gelesen; da war ich noch nicht so spröde. Hinterher kamen immer Leute und sagten, sie hätten sich wiedergefunden in meinen Texten. Sie wünschten sich (ganz offensichtlich), dass jemand (an ihrer statt) die Vorhänge zurückzog vor den Intimitäten und Verwirrungen, den Ungereimtheiten, den Zweifeln, die uns alle plagen.
Heute frage ich mich schon, in welcher Weise es mir schaden könnte, hier zusätzlich zu meinen unverfänglichen Texten Räume privater Natur zu öffnen. In die dann alle (die Wohlmeinenden und die Hinterhältigen) hineinstolzieren könnten. Warum, würden diese Leute mit Recht fragen, machst du sie denn auf, deine Räume, wenn du nicht willst, dass man reinkommt?
Ja, warum?
Warum überhaupt Privates? Man könnte ja auch einfach Buchbesprechungen schreiben. Oder Kochrezepte. Oder feinfühliges, über die Katze. Oder sich ins Gewand scheinbarer Objektivität hüllen und Themen bearbeiten. Doch wozu? ich will keinen Buchclub, keine Kochgruppe, keinen Katzensalon gründen.
Ich will euch gewinnen, mit Tainted Talents, als Leser. Mit der Zeit. Ich möchte, dass ihr euch an mich gewöhnt. Dass ihr mitverfolgt, wie ich darum ringe, dieses Ding überraschend und lebendig werden zu lassen, für mich und für euch. Ihr seid mein erstes Publikum: Was ich hier schreibe, ist frisch. Kann sein, dass ich Texte, die hier entstehen, zu einem anderen Zeitpunkt noch einmal veröffentliche, aber ihr seid die ersten.
Und nach und nach, während ich mich in mein neues Medium finde und dieses Blog zum Funkeln bringe, könntet übrigens auch ihr ein bisschen auftauen: Legt euch ein neues Pseudonym zu und schreibt gelegentlich mal einen Kommentar. Oder gebt den Link weiter. Ihr seid ganz schön träge. Ich glaube, dieses Blog wird nur prall, wenn auch ihr euch hin- und wieder mal regt. Auf irgendeine Weise…

Die Anmaßenden

Was tun? Was tun, um einzudringen und Spuren zu hinterlassen im Organismus der Wirklichkeit? Sagt mir das mal! Müssen wir ständig unsere geistigen Produktionen nach außen tragen, uns nach und nach in perfekte Schnittstellen verwandeln? Wie gedeiht eigenständiges Denken? Durch Sichtbarkeit oder dadurch, möglichst unsichtbar zu bleiben?

Ich frage mich das, zugegeben, in Bezug auf die Gattung der Künstler. Ich fand schon immer, dass es schiere Anmaßung darstellt, sein schöpferisches Lebenswerk im Kunstkontext anzusiedeln. Was gibt uns das Selbstbewusstsein, zu glauben, wir hätten mit unseren individuellen Ansätzen und Entwürfen ein Recht darauf, uns als besonders herausstellen zu wollen?

Meine Freundin P. sagte gestern auf diese Frage, die Kontinuität eines künstlerischen Schaffensprozesses verleihe ihm, über die Jahre, ein ganz eigenes Recht auf Existenz.
Das ist doch zumindest ein handfestes Argument. Wer eine Forschung, eine ins kleinste Detail verästelte Differenzierungsleistung lange genug betreibt, rechtfertigt den eigenen Drang nach Bedeutung irgendwann, allein durch die Dauer der eigenen Bemühung.

Ich spreche hier nicht von den im Markt gut positionierten Künstlern, die für grundsätzliche Fragestellungen nur noch wenig Muße haben. Auch nicht von denen, die sich in Zwischenbereichen ansiedeln, so wie ich, um darauf pfeifen zu können, ob ihre Arbeiten rechtzeitig verkauft werden, um die Miete zu bezahlen. Ich spreche von jenen, die Jahrzehnte in ein Werk investieren, täglich, ohne große Beachtung zu finden. Ohne Plan B. Mit Talent und Hartnäckigkeit, Anmaßung und Verzweiflung. Irgendwie scheint mir das eine von jeder Zeitströmung unabhängige Haltung.

Die bestmögliche Frage

Wir sind natürlich längst eingebettet in Fragen. Antworten als solche gibt’s auch genug. Wir, die Denkenden, bewegen uns in einer Fülle von Fragen- und Antwortmaterial, die so üppig, so kalorienreich geworden ist, dass wir inzwischen bewusstseinsmäßig alle ziemlich in die Breite gegangen sind. Denn es scheint, als ob diese beiden geballten Potenziale, diejenige der Fragen und Antworten, nichts anders tun, als Sporen zu streuen, sobald sie einander gefunden haben.
Wie wir alle wissen, passen Fragen und Antworten, ebenso wie Menschen, ja fast nie hundertprozentig zueinander. Es mangelt nicht an aparten Cross-over Fragen, die in artfremdem Terrain wildern. Auf der anderen Seite die berüchtigten, unwiderstehlichen Vielzweck-Antworten, die sich jeder Frage aufdrängen, ob die nun will oder nicht. Ideale Bedingungen für Sporen. Sekündlich gibt es Genreclashs.

Zwitter gibt es auch, die gleichzeitig beides sind. Wenn jene sich mit eingeschlechtlichen Fragen oder Antworten paaren, entstehen weitere Zwitter. Letzten Endes sind das die ehrlichsten Erscheinungsformen von Information: Die Kategorisierung in fragende und antwortende Elemente ist doch reines Showgeschäft. Wir alle haben unseren Vorteil davon, das so einzuteilen. Ein Kunstgriff, um Dinge ins Rollen zu bringen. Um nicht aus Versehen mit der immer währenden Gleichzeitigkeit der reinen, nicht etikettierten Information zu verschmelzen.
Information an sich ist ja sehr fruchtbar. Sie vermehrt sich lustvoll und höchst anarchisch. Lesen sie „Nymphomation“ von Jeff Noon, dann wissen Sie Bescheid.

Der Schauplatz dieser Frage/Antwort-Begegnungen, unser Bewusstsein, wird bei all dieser Interaktion natürlich nicht aufgeräumter, im Gegenteil, jede neue Frage, die sich mit einer Antwort verbündet, bewirkt eine weitere Aussaat auf unserem Feld, deren Triebe sich ruchlos in die blühenden, fast erntefertigen Bestände der Erkenntnis mischen. Es ist ein Skandal, über den sich anscheinend niemand aufregt.
Dieses ständige Gekungel, diese Vermischung, verfälscht die Unwiderlegbarkeit der Ernte, die wir heimbringen wollen, abends. Ein Prozess, der irgendwann dazu führen mag, dass die Synapsenaktivität im Kopf nicht mehr ausreicht, unser Bewusstsein vollständig mit Strom zu versorgen, weil dessen Ausmaße einfach zu unübersichtlich geworden sind. Und was dann?

Wir brauchen also ein paar gute Fragen. Na, sagen wir, eine gute Frage für den Anfang. Die bestmögliche. Danach wollen wir versuchen, ihr etwas Rückgrad anzuheften, damit sie nicht bei jeder dahergelaufenen, halbwegs gut aussehenden Antwort gleich umknickt und … Sie wissen schon. Sporen ausstößt. Alle Hoffnung auf Eindeutigkeit zunichte macht.

Ich hab gerade eine schnelle Idee für eine Frage, die Millionen Sporen abwerfen würde: Aber verstehen Sie mich nicht falsch. Es geht hier nicht um Beziehungen. Schon gar nicht um Grobmaschiges. Es ist nur ein Beispiel. Also: Gesetzt den Fall, ich erhöbe mich abends um neun vom Schreibtisch. Nähme meinen Wohnungsschlüssel vom Haken, packte ihn in einen Briefumschlag und schriebe darauf: „Phyllis Kiehl. Bleiben Sie 15 Minuten. Sprechen Sie nicht mit mir. Nehmen Sie nichts mit. Hinterlassen Sie mir eine Frage, bevor Sie gehen. Jetzt!“ Ich verschlösse den Umschlag, öffnete mein Fenster und würfe den Umschlag samt Schlüssel hinunter auf den Gehweg. Wer immer ihn fände, könnte zu mir in die Wohnung kommen.
Wow!
Wie hoch wäre die Wahrscheinlichkeit, dass jemand einträte, der verstünde? Was gäbe es denn zu verstehen? Schläft die bestmögliche Frage in jedem Menschen, bedürfte es nur eines Zauberworts, einer unwägbaren Situation, um sie zu extrahieren? Wie hoch wäre das Risiko, so etwas zu tun?
Sie sehen, haufenweise Sporen.

Das Problem ist doch: Man kriegt nichts wieder los. Egal, wie leer wir uns hin- und wieder fühlen: Wir haben jetzt, in diesem Moment, bereits mehr Information aufgenommen, bewertet und gespeichert, als uns je bewusst werden kann. In jeder Minute kommt neue hinzu. Unsere stete, vierundzwanzigstündige Anstrengung besteht darin, dieses wüste Geschehen zu ordnen, zu analysieren und zu simplifizieren. Wären wir uns wirklich bewusst, wie zunehmend schwer wir tragen, wie arg die Sporen in unserem Kopf am Werke sind – im Ernst: Wir würden sofort jedes zielgerichtete Handeln einstellen, uns einzig auf’s verstehen-wollen beschränken müssen.
Deswegen meine Suche nach der bestmöglichen Frage: Um wieder schnell zu werden. Vereinfachung, verstehen Sie? Um mir den Blick auf die erdrückende Last der Information zu verstellen, die ich bereits gespeichert habe. Aus den Augen, aus dem Sinn.
Eine würde mir genügen. Ihnen auch? Sie möchte mich bitte eine Weile begleiten, ein Jahr oder zwei, dass ich mich ihr zuneigen, mich an sie gewöhnen könnte. Sie möchte doch gefälligst an meiner Seite bleiben, ihren vielen anderen Verehrern die kalte Schulter zeigen. Vor allem den beflissenen Antworten, die um sie herumscharwenzeln.

Doch so läuft es nicht.
Mir blieb nie eine treu. Entweder sie fand eine andere und paarte sich. Da fand ich mich schnell umringt von einem ganzen Rudel, die sich, kaum fokussiert, bereits wieder vermehrten. Vorwärts kommen bei der Fragenkonzentration? Problematisch. Mein Schritt erlahmte.
Oder meine Auserwählte fand eine umherstreifende Antwort, von der sie sich angezogen fühlte, dehnte sich, umschlang sie und schnalzte mit ihr im Gepäck zu mir zurück. Hatte ich darum gebeten? Keineswegs.
Ich nahm sie zur Seite und machte ihr das deutlich.
„Ich brauche keine Antworten“, sagte ich, das sind unzuverlässige Gesellen, werd’ die wieder los. Alles Tagediebe.“
Doch was passiert? Ist immer das gleiche. Meine Frage ist verknallt. Lässt jeden Kontext fahren und haut mit ihrem windigen Gespielen unter Gekakel, Mirakel und Spektakel ab. Neue Sporen.
Ich blicke der Wolke hinterher, ein wenig amputiert. So geht das seit Jahren.
Wie also vorankommen? Wie beschleunigen? Wie orientieren?

Für die Manifestation der bestmöglichen Frage benötigen wir ein neues Bild, einen Kontext. Etwas schmackhafteres. Die meisten von uns verweilen nicht gern im abstrakten. Und ein bisschen Spannung muss her! Ganz ehrlich, wer mag schon theoretische Fragestellungen? Der Mensch braucht Bilder. Und dazu, wenn’s geht, einen Konflikt: Der bringt die Schubkraft.

Vergessen Sie also das mit den Sporen. Ab jetzt, kein Wort mehr über Sporen! Nach dieser Zeile schneiden wir diese Metapher hinter uns ab und öffnen den Maßstab. Nicht erschrecken.
Jetzt.

Sagen wir also, wir befinden uns im Paradies. Wo sonst? Wir wollen ja von vorne anfangen. Ein Paradies Version 2.0. Die einfachen Ingredienzien sind längst in Betrieb, Vegetation, Tiere, Landschaft, Fortpflanzung und Überleben, Vererbung, Sprachfähigkeit, das Grundgesetz, Bodenschätze, Industrie, Internet, das Wissen ums Universum, weil unser Planet schließlich nicht so im Nichts rumhängt.
Aber es ist niemand da. Niemand außer Ihnen.
Ich weiß, das ist hart. Stellen Sie sich einfach vor, es wäre alles da, was Sie und ich kennen, und schätzen, und hassen, aber sie wären der einzige Mensch. Ich werde der Schöpfer sein; ich habe Sie gerade erschaffen, als Repräsentanten für meine metaphorische Versuchsanordnung. Ich könnte diese auch anders herum errichten, doch das widerspräche meinem Bedürfnis nach Vereinfachung. Um ernsthaft die bestmögliche Frage zu finden, muss ich aus meinem System, meinem Muster heraus, nur von außen wird sie sichtbar. Und welches ist wohl der Maßstab, der am weitesten von meinem derzeitigen Ich entfernt ist?
Eben.
Ich, der Schöpfer, indes, bin gewissenhaft: Ich vervollständige das Paradies. Ich gebe Ihnen ein paar subjektive Joker, um den kontinuierlichen Energiefluss innerhalb Ihres Bewusstseins zu gewährleisten, sozusagen das innere Universum: Intelligenz, Phantasie, eine Bandbreite von Gefühlen vom schwärzesten bis zum hellsten, Chaos, Transzendenz, Geheimnisse. Was Sie nun haben ist – Fülle. Ich hab’ noch nicht einmal angefangen, diese zu beschreiben. Werde ich auch nicht, keine Angst. Ich hab mein Ziel fest im Visier: Die bestmögliche Frage.
Da gilt es, zu vereinfachen.
Also los.
Stellen Sie sich vor, Sie fangen noch einmal von vorne an. Sie erwachen auf dem weichen Boden dieses modernen Paradieses, splitternackt.

Ach, was solls, ich gebe Ihnen Ihre Lieblingsklamotten. Sie sind also angezogen. Ich, der Schöpfer, bin nicht in Sicht. Sie erwachen im vollen Besitz Ihrer geistigen Kräfte, Ihrer materiellen Möglichkeiten. Doch ohne zu wissen woher, ist Ihnen ebenfalls klar: Sie sind ganz allein.

Neben Ihnen auf dem Boden liegt ein Zettel.
Und ein Stift.

Kommen Sie schon! Das ist doch nicht so schwer. Was schreiben sie auf den Zettel? Hm? Eine Einkaufsliste? Sie können sich einfach alles nehmen aus den Geschäften, sie brauchen nie wieder eine Einkaufsliste.
Einen Brief? Es gibt niemanden mehr, an den sie schreiben können, das wissen Sie. Sie müssten sich jemanden ausdenken.
Einen Wunsch? Schon besser. Sehr warm. Aber an wen würden Sie ihn richten, diesen Wunsch? Sind Sie religiös? Aber ein bisschen ungeübt, stimmt’s? Na ja, Sie müssten es ja nicht gleich Gebet nennen.

Ich beobachte Sie, während Sie sich aufsetzen. Sie wissen Bescheid um Ihr Alleinsein. Sie wissen, Sie sind im Paradies. Sie sind vollkommen gefasst. Ich weiß das; es ist schließlich mein Versuch. Ihr Blick fällt auf den Zettel, den Stift.
Ein paar Dinge: Sie müssen heute nicht zur Arbeit. Nie wieder. Ihre Freunde werden nicht anrufen. Niemand wird anrufen. Lebenserhaltung ist kein Problem, es ist alles im Überfluss vorhanden. Die Errungenschaften der Menschheit: Sie stehen Ihnen gänzlich zur Verfügung.

Schwant Ihnen etwas?
Ich meine Sie hier, mein Publikum. Ahnen Sie etwas? Natürlich! Es fehlt die Spannung! Der Konflikt!
Okay. Sie, dort in Ihrer paradiesischen Versuchsanordnung, wissen es längst: Es kann nicht mehr lange dauern, dann kommt der Schöpfer, entnimmt Ihnen eine Rippe und macht Ihnen Ihren Gefährten. Oder Ihre Gefährtin, je nachdem.
Dieses göttliche Alleinsein – es wird nicht lange währen!
Also beeilen Sie sich! Wir sind doch auf der Suche nach der bestmöglichen Frage. Wie wollen Sie die finden, wenn Ihnen ein zweiter Mensch dazwischen quatscht? (Die Schöpfungsgeschichte nimmt unerbittlich ihren Lauf. Das ist in meiner Version nicht anders als in der ursprünglichen)
Nun.
Die Zeit verrinnt.
Es ist so still um sie herum. Noch haben Sie eine Chance, den weiteren Verlauf des Geschehens zu beeinflussen. Sie sind wirklich und ehrlich allein, wenn auch nicht mehr lange. Niemand beeinflusst Sie. Ist das nicht paradiesisch?

Da liegt der Zettel.
Da der Stift.
Denken Sie nach. Nein, besser noch, denken Sie nach vorne. Sie brauchen niemandes Vorgaben hinterher zu denken.
Dann ergreifen Sie den Stift.

Ich verrate Ihnen die Frage nicht, meine Damen und Herren, die meine fiktive Versuchsanordnung hervorgebracht hat. Tut mir leid. Das ist wirklich zu privat.
Doch wenn Sie ihre eigene mitgebracht haben: Gehen sie raus. Schauen Sie, ob Ihnen eine der Positionen, die heute Schloss Ringenberg bevölkern, eine Antwort zuwirft.
Und wenn ja – zögern Sie! Denken Sie daran, wie schnell Ihnen Ihre Frage abhauen könnte.
Und dann müssen Sie zurück ins Paradies und von vorn anfangen.