Irrituale

Samstag, 4. April 2020

Rituale können irre werden, klar, sind doch gerade sie auf Kontinuität angewiesen.
Wörter infizieren sich im Ausnahmezustand und kommen als Mutationen zurück aus der Quarantäne. Ob sie immun gegen erneute Ansteckung sind, ist noch nicht erforscht.

Der Flexistab steht verspinnbewebt hinter der hölzernen Bank auf der Terrasse, Ladybird hat ihn nie wirklich angenommen. Die alte Dame praktiziert täglich ihr Yoga-Ritual und braucht keine „neumodischen Ferz“, um ihren schlanken Leib in Vibration zu versetzen, das bringt sie anders zuwege.

(„Das sind doch neumodische Ferz“ – ein geflügelter Satz meiner Großmutter, die Göttin hab’ sie selig. Eben kommt mir der Gedanke – aber klar! – es waren Fürze gemeint.)

Jedenfalls, der Stab ist inzwischen gesäubert, ob Ferz oder nicht, ich versetze ihn in Schwingung und laufe damit herum, schlage mindestens zwei Fliegen mit einer Klappe, der Trizeps reagiert, auch die Rückenmuskulatur. Gleichzeitig halte ich mir damit Ladybird vom Leib.

Das Sportgerät hat zufälligerweise genau die Länge, die ich von ihr Abstand halten sollte, damit sie nicht ins Aerosol gerät. Meines. Ein anderes drängt sich ihr nicht auf, denn ihr Haus samt Garten ist abgeschirmtes Gelände, einzig ich verweile in ihrer Nähe, arbeite hier, schaffe Futter heran.

Der Rosmarin blüht.

„Riech doch!“, ruft Ladybird, aus dem Garten kommend. In der ausgestreckten Hand hält sie ein Zweiglein mit winzigrosafarbener Blüte.

„Leg’s da hin“, sage ich und deute mit dem Flexistab auf den Kaffeetisch, damit sie nicht aus Versehen zu nah an mich herantritt. Die räumliche Distanznahme fällt uns nicht leicht; in unserer Familie ging es immer innig zu. Andererseits vergegenwärtigen wir uns, wie privilegiert wir sind, überhaupt Maßnahmen zu unserem Schutz ergreifen zu können, die alte Dame in relativer Sicherheit zu wissen und auch nicht einsam. Ein Privileg, nicht großartig verdient, nicht herbeigeführt. Wäre ich nicht selbstständig, prinzipiell gut drauf und meine Arbeit derzeit nur aus Privaträumen möglich, Ladybird wäre so allein wie viele andere über Achtzigjährige derzeit.

Nicht, dass Isolation für alle gleichermaßen eine Strafe wäre. Die Schriftstellerin Olga Tokarczuk berichtet heute in der FAZ-Reihe “Mein Fenster zur Welt” >>> https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/reihe-mein-fenster-zur-welt-jetzt-kommen-neue-zeiten-16703455.html von ihrer Erleichterung. So lange habe ihre Introversion, schreibt sie, „unter dem Diktat hyperaktiver Extrovertierter gelitten“, ja, sei „fast erstickt worden“. Nun habe sie den Staub abgeschüttelt und sei aus dem Keller hervorgekommen.
Ich folge ihren Gedanken bis zum Ende des Artikels, blicke dann in das dem Text vorangestellte Antlitz. Danke, Frau Tokarczuk, in Ihrer Conditio hab’ ich gern ein Weilchen verweilt.

Gesichter sind wichtig für Texte. Ja, Kunst muss alleine stehen können, doch für mich ist Eindrücklichkeit auch immer eine Frage der Körper. Wie repräsentiert die Physis den ihr innewohnenden Geist? Ein Mund, ein Auge, eine typische Handbewegung. Die Art, wie eine Haut sich mit den Jahren faltet. Wie jemand den Kopf auf den Schultern trägt.

Unsere Körper sind so kostbar. So unglaublich schön in dem, was sie tun können und in dem, was sie unablässig zu tun bereit sind. Ich seh’ mir meinen im Spiegel an und denke, ja, unsere Rituale sind irre geworden, aber bitte, liebes Fleisch, liebe Haut, liebes Blut, hört nicht auf, zu anderen zu sprechen.

 

Aerosolisten

 

Donnerstag, 26. März 2020

(unten als Audio-Datei)

 

Bleib’ solo, Dein Aerosol kann womöglich töten.

Neue Phänomene: sich der eigenen Physis im Kontext anderer Körper auf eine Weise bewusst zu werden, die noch nicht eintrainiert ist. Gefahr, flüstern die neu aufgetauchten Experten, Gefahr, Gefahr, zieht euer Fleisch aus dem sozialen Körper zurück.

Wie viel Raumforderung stellt ein einzelner Mensch? Die dünneren bewegen sich eilfertig, tauchen unter Regalen, Schildern, auch unter den Alten und Schwerfälligen weg, dieses und jenes wird ratzfatz erledigt, während andere verlässlich wie Frachtschiffe ihre Bahnen ziehen. Die hab’ ich gerade besonders lieb.

Klar, den Alten helfen! Dass dazu explizit aufgefordert werden muss! Wir Jogger, das erweist sich unterdessen im Park, kriegen es einigermaßen hin, unsere schweißschleudernden Glieder auf Distanz zu halten, wir mit unseren Stretch und Beats-per-Minute- Playlists, trotzige Atmer, Auftreter, Abroller, die sich quer über’n Feldweg zunicken und denken:
yeah,
bloß nicht einknicken jetzt, gell. Weder real noch metaphorisch.

Zahlen, deren Gültigkeit schon im Moment des Aussprechens erloschen ist, schwirren durch die Kanäle. Ich seh’ Leute im TV, die vorher nur über Skype oder die Resopaltische ihrer Labore und Kantinen hinweg mit ihresgleichen gefachsimpelt haben, Leute, die neuerdings aus jenen No-Go-Areas vor die Kameras treten, für die man Tastenkombis an den Türen braucht. Infizierte Sprache: Jedes dritte Substantiv im Diskurs scheint durch Fachvokabular ersetzt. Wie schnell wir in Veränderungen katapultiert werden können, wenn nur genug Druckmittel da ist! Dabei war ich’s schon vor Corona leid, andauernd vor vermeintlichen Expertenmeinungen in die Knie zu gehen. Jetzt aber sind es gerade diese Gesichter, die es nicht gewohnt sind, in Kameras und Scheinwerfer zu schauen, auf die ich mein Augenmerk richte. Wie heilend so ein ungekünstelter Mensch wirken kann. Hatte das fast schon vergessen.

Planeta

Furchtlos. Farbig. Summend vor Liebe, komplizierte Kugel unterschiedlichster Auffassungsstrukturen. Genesisgewebe, Aggregatszustände, Schutzschichten und heimlich Verbarrikadiertes,

einige No-Go-Areale, Urwälder, Meere. Gatter. Geöffnete Wiesen. Rauschzustände dingfest gemacht, geschreddert, gemulcht, füllen meine Silos, unablässig Fluten von Ereignissen, obendrauf und innendrin.

In den Dämmerungen verschieben sich Kontinentalplatten,

so zart, dass es für meine mimiMikroorganismen nur ein Hüpf zur nächsten Kruste ist,
für die großen aber schwer,

für die Großen ist es immer schwer, dieses letzten, dessen Ende es aber nicht gibt,
nur meine Lock- und Schadstoffe, deren Logik allweil verborgen bleiben will.

Aufgesogenes Wissen verteilt sich schubweise, sedimentiert, explodiert,

Zyklen zelebriere ich grundsätzlich direkt vor Ort, durch und durch biologisch, feinsinnige Opfer aus meinem eigenen Fleisch, gegraben und zurück an die Substanz gespendet, autopoietisch,

mir selbst ebenbürtig,

Muschi, Muscheln, schmatzend aus grasgrünen Lefzen,

da poppt plötzlich ein Lustlämmchen auf, bereit und blitzschnell vergoren, denn ich bin viele, bin Antike und Neuzeit, Irrtum und Altertum,

bin Lungenbläschen, schwappend vor Gier nach Luft, Zersetzung, Verfall, Mehrung.
Ich bin: Planeta. Surrend an die Kanten des Wahrnehmbaren, Ozean, frei. Fanatisch. Fantastisch. Mein Wasser durchdringt jeden Ritz, jede Schleuse, mein Atem hebt und senkt sich über Jahrmillionen, frisch wie junger Apfelhauch, meine Gestade stehen im Sturm, ohne mit der Wimper zu zucken, während andere schon beim kleinsten Pips aus der Puste geraten.

Gott, deine Zumutungen.
Doch eine Kugel kann nicht kippen, nur spielen: meine Pilze und Bakterien seit je im Wettstreit, ihre Kriegshandlungen überziehen mich mit schillernden Schlachtfeldern,

ihr Blut so allgegenwärtig, dass niemand es erkennt, außer man guckt mit dem Mikroskop, was allerdings immer passiert: Planeten machen andauernd Selfies.

Wie viele Arten auf mir hausen, in mir, Spezies,
Erinnerungen, Beziehungen,

du siehst davon nur dein Flugfeld und die paar Parzellen, die du dir zur Benutzung freigegeben hast, bist weißgott kein Pionier, lässt mich lieber deinen Flieger polieren als dich mit mir zu mischen, betrittst nur dein Streifchen gewürztes Land, das fliegst du an, von dort hebst du wieder ab.
Doch die Furchen, die du hinterlässt, füllen sich mit Regenbogenwasser.

Ungestalt

“Danach zu gieren, im Lauf der Zeit jenen Menschen – es sind wenige – zu begegnen, die mir bestimmt sind und die wirklich m i c h meinen. Erkannt zu werden. Im Unmittelbaren. Das wird aber nur gelingen, wenn ich das meinige dazu beitrage, mich nicht verstelle. Ich muss also bereit sein, mich auch roh und vermeintlich hässlich zu zeigen, damit die Rohheit und vermeintliche Hässlichkeit des anderen in mir Heimat finden kann. Eigentlich finde ich nur Geist schön. Intensität. Dringlichkeit. Körper sind einfach Körper. Man benutzt sie, wie sie sind. Ich werde deinen lieben, weil es deiner ist.”

Hormonschmäh

“Individualität ist weiterhin eine leicht dekonstruierbare Konzeption, man muss nur ein paar chemische Eingriffe vornehmen, schon kommt ein anderes Verhalten ans Licht.”
“Klar. Wir sind steuerbar und werden gesteuert, unablässig, von unseren eigenen Hormonen oder denen der anderen.”
“All das Geschiss um Motive, was Menschen angeblich ideologisch befeuert zu tun, was sie tun?!? Im Ernst jetzt? Ist doch alles Pillepalle!”
“Hormone sind geheimnisvoller als jeder noch so feinziselierte Gedankengang.”
“…Und resistenter als jede Ideologie!”
“Ich, rein hormonell, bin beispielsweise zwei Frauen. Eine dauergeile, vorwitzige in der ersten Zyklushälfte und eine grüblerische, schwerer erregbare in der zweiten. Hab’ ich mir das etwa ausgesucht?”
“Nö.”
“Überall in meinem System kreisen die Botenstoffe… und ohne Produkte der Pharmaindustrie einzusetzen hab’ ich kaum Einfluss darauf, wie die ausgeschüttet werden. Vielleicht sind andere ja gewiefter; i c h kann mich jedenfalls nicht steuern. Obwohl ich’s gefühlt seit Jahrhunderten versuche! Seitdem wir bluten sind wir dem Unfassbaren ausgesetzt. Richtig?”
“So isses.”
“Meinetwegen hätte die Natur bei mir auf den ganzen Kram nach dem Eisprung komplett verzichten können. Mein System müsste nicht jenen Monat wieder auf halber Strecke dieses hormonelle Nest bauen, damit das verflixte Ei reifen kann. Ist doch Mist, ich wollte eh nie KInder! Wo bleibt da die Individualität?”
“Reine Fiktion, wenn du mich fragst. Aber jetzt komm mal wieder runter.”
“Okay. Meinetwegen.”

 

Flirt du jour

„Wer bist du in Paris?“, fragte er. „Wen sieht der Mann, der im Café neben dir sitzt?“
„Ich bin eine andere als sonst“, schrieb ich zurück. „In früheren Jahren trug ich Kleider und High Heels, Hüte und Handschuhe; ich war vorwitziges Fleisch in den Auslagen der Stadt. Es gab Seide und ein Boudoir und wer mir draußen galant den Arm bot, wurde nicht abgewiesen.“
„- Und dieses Jahr?“
„… trage ich ausschließlich schwarze Trainingsoutfits und bin immer ein bisschen unter Strom. Ich hab’ meine neuen powerbeats-Kopfhörer samt Playlists in den Ohren und ein rotes Handtuch um den Hals. Eine abgeriegelte Figur, die Resonanz erzeugt, weil sie die Titten zurrt und ihren Bizeps aufpumpt. Dazu knallroter Lippenstift und Sonnenbrille.“
„Eine andere Ebene. Eine größere Hürde, zu dir durchzudringen. Und nur offen für die, die das meistern. Interessant.“
„Nur für Männer, die Körperspannung haben, nähme ich dieses Jahr die Stöpsel aus den Ohren.“
„Ich würde dich auf keinen Fall ansprechen – nicht, wenn wir nicht zufällig nebeneinander an der Bar ein Getränk bestellten und Augenkontakt hätten, der länger als eine Sekunde dauerte. Ich hasse es, als derjenige zu starten, der ‘den ersten Schritt macht’. Es ist dann nicht mehr gelevelt, weil mein Interesse schon augenscheinlich ist.“
„- Aber…?“
„… würde ich im Apartment neben dir wohnen, ich würde auf dem Flur jedes Mal anhalten, ruhig atmen und versuchen, dich zu hören. Bei was auch immer.“
„Ich hab’ mich gehen lassen dieses Jahr, hab’ immer wieder die Kontrolle verloren, das ist auch physisch augenscheinlich geworden. Jetzt ändere ich das wieder.“

 

Zwischenstand for ever

Das Chronische kommt gegen das Akute nicht an. Niemals. Jene, die ringsum akut um ihr Überleben kämpfen scheinen immer mehr im Recht zu sein als jene, die schon ein kalter Regentag depressiv machen kann, oder das Leben als solches. Subjektiv aufgeladener Schmerz ist moralisch nicht mehr tragbar, wirkt narzistisch. Also drückt man’s weg.

Doch der Rückzug auf politisch untadelige Positionen ist ein bisschen wie Marmelade einkochen: als Belohnng kriegt man was Dickflüssiges hinter Glas mit einem Etikett drauf, das nicht mehr abgeht.