Die Wohnung

Ich schloss die Tür auf. Drinnen Lärm, drängend, poppig, südamerikanisch. Eine Musik von der Art, wie ich sie auch an guten Tagen kaum drei Minuten lang aushalte.
„Ich habe jemanden bei dir einquartiert“, hatte mein Gönner bei unserem Treffen gesagt, „nur vorübergehend. Mach’ dir keine Gedanken.“
Ich hatte nur genickt. Wollte nicht kleinlich wirken.

Über die Türschwelle die gewohnten Schritte, ich ging links zur Küche durch. Da war jetzt eine Theke aus milchigen Glasbausteinen. Der Rest der Einrichtung war blau, ebenso die Wände. Ultramarin. Wenn es eine Farbe gibt, die ich absolut hasse, dann Ultramarin.
Der Designer stand hinter der Theke und sprach offenbar mit sich selbst. Auf den ersten Blick befanden sich sechs Leute im Raum im Raum, alle Anfang zwanzig, alle in Bewegung außer ihm.
Meine Küche war vom Wohnzimmer nicht mehr abgetrennt und das Wohnzimmer weitete sich bis –
Ganz hinten übte jemand an einer Ballettstange.
Unerträglich, die Musik.
Ich ging zur Theke, legte die Hände mit den Handflächen nach unten auf das Glas und atmete durch. Rechts auf dem Boden neben mir türmte sich ein riesiger Haufen bis fast zur Decke auf. Durchsichtige Plexiglaswürfel umschlossen jeweils ein Objekt, ich sah nur kurz hin. Bestimmt an die zweihundert, die Würfel an Fäden verbunden. (Kunst? Materialproben?)
„Wie lange bleiben Sie?“, fragte ich.
Der Mann blickte zu mir herüber, unterbrach seinen Redefluss aber nicht.
„Ich sehe keine Veranlassung“, hörte ich ihn sagen. Mir wurde klar, dass er telefonierte. Knopf im Ohr.
„Ich will meine Wohnung zurück!“, rief ich.
Er wedelte mit der Hand. Galt wahrscheinlich auch nicht mir.

Mein Appartment war enorm viel größer geworden, es schien kein Ende zu nehmen. Rings um mich geschäftiges Treiben.
Erst langsam verstand ich, dass es hier nichts Vertrautes mehr gab.
„Machen Sie die Musik aus!“
Keine Reaktion.
„Hören Sie, ich kann so nicht leben.“ Ich griff mir den Arm des Designers. „Und ich hasse Blau, besonders dieses. So läuft das nicht.“
Der Mann hielt mit dem Sprechen inne, ein verständnisloser Ausdruck zog über sein Gesicht.
Ich hielt ihn weiter fest: „Aber es ist ja nur temporär. Also. Wann ziehen Sie wieder aus.“
Er sah mich an, als wüsste er nicht, wovon ich spräche.
Einer dieser Wuschelhunde, die man in die Handtasche stecken kann, tobte an mir vorbei.
Wo ist mein Bett, dachte ich.
Wo werde ich schlafen.
Von meinen Sachen war hier nichts. Einem Impuls folgend, trat ich näher an den Plexiglashaufen heran.
Da waren sie.
In jedem Kästchen war etwas eingeschlossen, das mir gehörte. Oder zumindest ein Stück davon. Ich entdeckte einen Holzsplitter von meinem Bett. Eine Feder, die hinter dem Porträt meines Vaters an der Wand gesteckt hatte. Ich wühlte weiter. Mein Ring von Daniello. Ein Stück vom 50er-Jahre-Überzug der Wäschetruhe. Ein Absatz. Mein Lieblingsschuh?
Ja.

Ich konnte hier bleiben, niemand würde mich hindern, man vertreibt schließlich keine Person, die es nicht mehr gibt.
Eine Person, die es nicht mehr gibt, kann auch nicht rebellieren. Außer, wenn

Arnos Beeren

„Am Anfang zerstörte sein Arsch die erste Zelle.“

Das war der Satz, mit dem mich der Kurator, von der gegenüberliegenden Straßenseite aus auf meine wechselnd, begrüßte. Er wies mit der Hand auf den Vorplatz, wie um ihn zu segnen.
Wir standen am Eingang; auch ich war eben erst eingetroffen. Eine Messingplatte, rechts von uns in Augenhöhe an den schmiedeeisernen Vierkantstäben befestigt, die die Einfassung des Geländes bildeten, zeichnete den Ort als Gedenk- und Begegnungsstätte Arno Schmidt aus. Die Platte war seit längerem nicht poliert worden.
Ich sah zum Gebäude.
„- Die erste Zelle?“
„Ja.“
Gesprächig war er nicht.
„Man kommt kaum hinein, ohne sie zu zerstören“, bemerkte ich. „Die Instandhaltung muss aufwändig sein.“
Er nickte. Noch immer hatten wir keinen Schritt getan.
Die Witterung mehrerer Jahrzehnte hatte auf dem großen Vorplatz ihre Spuren hinterlassen, unzählige tiefe Risse durchzogen die von der Sonne gebleichte Asphaltdecke. Weder Pflanzen noch Tröge, Skulpturen oder Springbrunnen lenkten den Blick des Besuchers vom Boden ab, der Platz war komplett leer. So musste jeder Gast bereits vom Eingangstor aus das Ausmaß der Aufgabe zur Kenntnis nehmen, der sich die Hüter der Institution täglich gegenübersahen.

In jeden Riss, jede Spalte der Asphaltdecke waren reife Erdbeeren gesteckt. Mit der Spitze nach oben.
Nicht gedrückt, dachte ich. Gesteckt. Jede einzeln. Große Erdbeeren für große Spalten, kleine für kleine, säuberlich nebeneinander, bis der Spalt gefüllt ist. Bis jeder Spalt gefüllt ist.
Der Kurator räusperte sich.
Ich wandte den Blick von den Früchten und sah ihn an.
„Es kommen zu viele Stipendiaten in letzter Zeit. Vor allem männliche“, sagte er.
„Das erhöht den Aufwand sehr, nicht wahr?“
„Ungemein“, bestätigte er. „Wollen wir gehen?“
Ich mochte aber nicht.
„Hat er sich draufgesetzt? Auf eine Erdbeere?“, fragte ich. „Schmidt?“
Der Mann nickte.
„Bei der Einweihung?“
Erneutes Nicken.
„Oje. Und seitdem – ?“
„Wir tun, was getan werden muss.“
Der Kurator nahm Haltung an, wie um der Bürde gewachsen zu sein und hob bedächtig den rechten Fuß.
„Kommen sie!“
Ich rührte mich nicht vom Fleck.
„Wo oft am Tag müssen sie die auswechseln?“ beharrte ich.
„Wir tun, was getan werden muss“, wiederholte er. Er sah mich an, sein Blick schwamm ein wenig.
„Sie weinen!“, rief ich. „Sie verklären ihn!“
„Sie sind Stipendiat“, erwiderte der Kurator mit Würde. Er nahm meinen Arm: „Lassen sie uns gehen, ich zeige ihnen ihre Zimmer.“

Jahre ist das her.
Meine Arbeit vor Ort ist längst getan und veröffentlicht, doch gelegentlich erinnere ich mich an diesen ersten Gang, die aufbrechenden Früchte unter meinen Schuhsohlen.
Zerquetschte Zellen.
Man gewöhnt sich daran.