Chronisch akut

Resümieren klingt immer seltener nach einer guten Ausgangsposition. Diese Unart, eigenes Empfinden und Wahrnehmen andauernd in Relation zu setzen! Kein Recht mehr auf Niedergeschlagenheit, während es anderen doch so viel schlechter geht, vor allem so unmittelbar. Wer traut sich denn noch, anhaltend Verlust zu artikulieren, oder Leid, wenn nebenan in der Welt tausendfach jemand vertrieben, gedemütigt, geschändet wird? Dazu die subcutane Scham, in einer dieser Besitzstandswahrungsgesellschaften zu leben, unablässig in Trance gesurrt von Bildern und Konsum.

Das Chronische kommt gegen das Akute nicht an. Niemals. Jene, die um ihr Überleben kämpfen, scheinen immer mehr im Recht zu sein als jene, die schon ein kalter Regentag depressiv machen kann, oder ein Leben als solches. Subjektiv aufgeladener Schmerz an der Welt ist moralisch nicht mehr tragbar, wirkt narzistisch. Also drückt man’s weg. Dabei hat mich Stillhalten noch nie motiviert, geschweige denn auf neue Ideen gebracht.
Langsame Reduktion auf die moralischen Grundwerte ist wie Marmelade einkochen: duftet unwiderstehlich, während es passiert. Als Belohnung hat man dann Etiketten auf Gläsern.
Marmelade hab’ ich schon immer gehasst.

Stimmengewirr im Kopf, Entfremdung. Werde ich durchscheinender? Egaler? Ich zeige anderen, wie man sich an die große Glocke hängt, helfe ihnen, sich im Spotlight nicht wegzuducken. Da bleibt nicht viel Drang, abends in die Vollen zu gehen. Menschen, die sich zu Scheinwerfern machen, bleiben selbst gerne im Dunkeln.
Höchstens mal ’ne Kerze, wenn’s schön sein soll.

So auf Antiextravaganz festgezurrt. Katalysator:innen müssen nicht kämpfen, nur sein. Sollen die Auserwählten doch den Kampf um Anerkennung im Haifischbecken austragen, die Panikattacken und ihre Narben. Darf eine dennoch trauriger werden und müder, ohne ihr Leben riskiert zu haben – oder zumindest ihre Reputation? Vielleicht ist die Sehnsucht, anderen zu helfen, doch nur Feigheit angesichts der Alternative, aus voller Kraft künstlerische Spuren zu hinterlassen: sein Unwesen zu treiben. Als Aufstand gegen die moralische Diktatur des Wesentlichen.

Farah Days Tagebuch, 40

Mittwoch, 4. Mai 2016

Hey Zucker, wo

bist Du?
Die heißen Messages kommen längst nicht mehr von Dir.

Im Haus nimmt eben jemand ein Bad. Rohre gluckern. Draußen die Kogge, dazu Elstern und ein ganzer Wurf jüngst belichteter Meisen. Blaue. Hängen kopfüber am Bällchen.
Kleine Wahrnehmungen sind Tranquilizer.
Weißt Du ja.
Und dazu der Gemüsesbrei morgens! Macht aber friedliche Schleimhäute & gequirlte Scheiße. Was für ein Kuscheln Kuschen seit Wochen und Monaten! Nur Decken und Kissen.

Du polsterst dir das Fallen aus, schimpft Farah, doch wie lang, glaubst du, dauert wohl so ein Absturz? Du bist längst unten. Nur dein Hoovercraftgehirn hält dich drei Zentimeter überm Boden.

(—- „Hoovercraft“? Echt jetzt?!?
Aber sie sagt, wie’s ist.)

Und wenn ich Phantome besuchen will, geh’ ich in die Bibliothek, long live the Schutzumschlag. Ich werd’ eine von diesen Schienenleitern brauchen, um an Dich ranzukommen.
Rate mal, wie oft das passieren wird.
(…)
Aber vielleicht schicke ich eine Vertretung.
Don’t kill the messenger.

Alles hat seine Zeit, doch nur manches hat unsere.
Wir können keine Böden mehr, geschweige denn doppelte, lassen nichts mehr anbrennen — also lassen wir’s gut sein.
Lassen wir’s gut sein.

In Liebe, Dein
Karamell

(((„Farah, wie hab’ ich dich vermisst!“)))
(((„Ich bin doch da. Immer.“)))

Das Wort mit P

Ende nächster Woche werde ich mit meinen Förderschulkids eine Installation zeigen. In der Bibliothek, in der wir seit Anfang Oktober letzten Jahres einmal wöchentlich versuchen, die Lust am Schreiben aus der Umklammerung der Unsicherheit zu befreien.
Dieser Leichtigkeit wegen auch die Luftballons als Teil unserer Text-Präsentation. Wir befüllen sie mit Helium. Neiiiin, nicht einatmen!!!

Das waren sehr, sehr konzentrierte Monate mit diesen kids. Einer der Gründe, weshalb nie genug Zeit für TT war. Ich musste – und wollte – mich erst einmal einstellen auf unsere wöchentlichen Sessions. Vor allem auf die Kids. Einzeln. Das bedeutet einen Tag Vorbereitung, dazu ein Tag Ausführung, das saugt ganz schön an meinem Zeitreservoir. Und die übrigen Workshops wollen ja parallel mit gleicher Verve durchgeführt werden.

Doch ab Ende nächster Woche ist dieses Förderschulprojekt abgeschlossen und der neue Turnus beginnt erst wieder im Oktober. Ich weiß noch gar nicht, was ich mit all der Zeit anfangen soll, die mir dann plötzlich wieder zur Verfügung steht, aber mir wird etwas einfallen… und irgendwo da draußen wartet auch Paris.

Lächelnd,
TT