PostfakTTisch

Es gibt da etwas, das ich Urvertrauen nennen würde: eine Anreicherung der Psyche aufgrund ihrer frühsten Erfahrungen. Wer es nicht hat, bleibt sein Leben lang … ja, wie?
Kindlich? Weil die Hoffnung nie ganz aufhört, doch noch einmal irgendwann in die geöffneten Handflächen eines freundlichen Riesen zu fallen. Nach allem, was mir Defizitäre im Laufe der Zeit erzählt haben, ist das allerdings eine sehr große Hoffnung mit einer sehr kleinen Wahrscheinlichkeit, erfüllt zu werden.
Anderen grundlos zu vertrauen: Wer dieses Gefühl nicht in sich trägt, empfindet schon die Vorstellung als grotesk. Schon gar Fremden gegenüber.

Ein Vertrauensvorschuss ist schon fast so gut wie Nächstenliebe.

Farah Days Tagebuch, 50

Mittwoch, 4. Januer 2017

Und wieder einmal sind es die Weggefährten, nicht die neuen Gesichter, die mich mein Leben spüren lassen. Unsere wettergegerbten Bündnisse.
Wir kamen zusammen, als in allen Blicken noch der Mutwillen stand. Inzwischen mustern wir uns sorgfältiger, tauchen unsere Ruder in die Flüsse, die wir einander geworden sind. Unterschwellig geht es immer um Energie. Wer hat welche, wer nicht? So manches Ruder ist schwer von Algen.

Regen. Über Nacht hat er das Alpenveilchen geplättet, die vollgesogenen Blütenblätter liegen auf ihrem Blattwerk wie pinke Mündchen.

Vom Phyling.

Ihnen allen, geschätzte, wunderbare Leserinnen und Leser, ein gesundes und friedliches neues Jahr!
Kommen Sie elegant durch die Nacht.
Vergessen Sie mal ein Weilchen, wie beunruhigend sich unsere Spezies auf diesem Planeten verhält und lassen Sie locker.
Morgen ist auch noch ein Tag… und danach ein Jahr…
Perlen entstehen aus der Rebellion gegen Fremdkörper. Wenn das mal kein Hoffnungsschimmer ist.

Wir lassen uns nicht irre machen und bleiben beherzt.
Einverstanden?
Alles, alles Gute.
Phyllis

Phyling

Farah Days Tagebuch, 49

28. Dezember 2016

Im kommenden Jahr mehr Bilder malen und ausstellen, häufiger unterschwelliges Denken aufspüren, seltener defizitär resümieren, (überhaupt seltener resümieren, himmelherrgott!), Entscheidungen, die zu treffen sind, nicht immer als Beschneidung der Vielgestaltigkeit auffassen,
Kurztrips ins Ausland.
Da Klamotten reichlich vorhanden und Schuhe ebenfalls wird es Zeit, die Kohle, falls überschüssig, in komplexere Entwürfe zu investieren, auch sieben bis zehn Kilo könnten runter, ohne dass die Garderobe ausgewechselt werden oder ein neuer Stil her müsste,
Landebahnen, Stege, Brücken malen. (Und Leitern aller Art)
Fixkosten überprüfen, im realen wie übertragenen Sinne, Investitionen desgleichen, einfach mal durchweg alles in Frage stellen, nach vorne, nicht nach hinten schauend,
Vorlieben erspüren, die nicht konsumabhängig sind. Auch die Nachlieben nicht vergessen,
dabei weniger Angst vor Fremdsein, Argwohn, Ungültigkeit zulassen (obwohl, Angst ist okay und vielleicht wesentlich zur Aufladung von Plänen und Situationen, wäre also nur die Starre zu vermeiden, die aus ihr resultiert, so oft),
Paukenschläge inszenieren.
Insgesamt nicht mehr so viel Zeit in die Neuschöpfung von Ausreden investieren, das Repertoire stattdessen wiederverwenden, vor allem, was jene anbelangt, die ich nur mir selbst gegenüber einsetze,
grundsätzlich gilt: Was ich nicht gemacht habe, habe ich nicht tun wollen, hugh, zumindest zu diesem Zeitpunkt nicht,
mehr Katzen zu treffen wäre hierbei lehrreich und vonnöten.
Gefühle identifizieren, denn so seltsam das anmuten mag, Gefühle zu identifizieren ist hohe Kunst, die werden andauernd interpretiert und vermarktet, ohne zuvor im Kern gefühlt worden zu sein, das hat Auswirkungen auf die Gesellschaft, den Sex, den Glauben, die Karrieren, die Schwarm- und Einzelintelligenzen, den Mut, Gleichzeitigkeit und Anderssein zu denken und was weiß ich noch, ist auf jeden Fall fatal und braucht mehr
mehr
Eigeninitiative.
Freiwilligkeit ist ein Privileg. Wir suchen uns nicht aus, geboren zu werden, geschweige denn in welche Kultur oder in welchen Krieg, wir werden schlichtweg an die Luft gepresst und dann läuft es für wenige wie am Schnürchen und für viele wie an der Kette und die wehren sich irgendwann und die Schnürchenmenschen behaupten dann gerne, ihre Schnürchen seien doch auch Ketten, aber das stimmt so nicht,
stimmt so nicht, weil die meisten von uns hier inklusive mir kämpfen um den Erhalt von Zuständen, nicht um deren Erlangung und das ist ein verdammtes Privileg, weil wir für diese doch recht angenehmen Zustände meist nicht sonderlich viel getan haben und dieses Privileg gilt es zu befragen, freiwillig, bevor –

Die Sprache der Anderen, 77

(…) Andererseits ist die Identität im Kapitalismus ökonomisch verfasst als riesiges Feld der Vermarktung. Ganze Service-Industrien gruppieren sich um die Einzelnen und organisieren die Ausrüstungen für das vermeintlich Eigene. Es gilt ein allgemeiner konsumistischer Ich-Befehl. Der Distinktionsgewinn lauert überall. „Ich“ mache den Unterschied mit Hilfe von Mode, Kosmetik, Popkultur, Touristik etc.
Diese ganzen Selbst-Aufrüstungen hinterlassen ein zwiespältiges Bild – sie können als Training für den selbstbewussten Gang durch die komplexen und dynamischen Wirklichkeiten des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens gelesen werden. Sie wirken aber auch immer schal, weil Konsum letztlich leer bleibt im Verhältnis zu anderen „realen“ Erfahrungen. (…)
Identität ist oft die Summe dessen, wie wir andere sehen oder verkennen und wie wir gesehen werden und gesehen werden wollen. Krisen und Verstörungen sind hier ebenso wichtig wie Erfahrungen der Wirksamkeit, des Einflusses aufs eigene Geschehen. Achtsamkeit, die wir nicht bekommen haben oder vermissen, kann uns darauf hinweisen, diese anderen zugute kommen zu lassen, es besser zu machen, als es uns ergangen ist.
Diese Mikropolitiken des Alltags sind wesentlich für das Ganze der Gesellschaften. (…)

>>> Thorsten Schilling im Editorial des aktuellen fluter – dem Magazin der Bundeszentrale für politische Bildung

Der fluter ist für eine junge Zielgruppe jeden Alters konzipiert. Die Beiträge sind kurz, intelligent und realitätsnah, ohne je in Jugendjargon zu verfallen, kurz, das Ding ist klasse gemacht.
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