Archiv für den Monat: August 2015
Wirhier
“Warum kriegen die das nicht bei sich geregelt. Haben die kein Plan. Wie Akte X, ohne Scheiß. Tausend davon. Nachher werd ich da reingezogen. Nachher quartieren die noch sone bei mir ein. Wie im Krieg. Seit die jede Nacht rüberkommen. Das Meer sieht ja immer rabenschwarz aus. Kaum zu glauben dass man in der Brühe noch baden kann. Wo jetzt so viele reinfallen ist damit aber sicher bald Schluss.
Was können die hier schon machen. Kennt die jemand. Ich seh nur was krabbeln im TV. Manchmal träum ich davon. Wo es so heiß ist jetzt hab ich immer ein Handtuch am Bett.
Keine Namen. Jedenfalls hör ich nie einen oder dass jemand seinen mal sagt.
Wer wär zu mir denn freundlich wenn ich so am Arsch wär. Glaub bloss nicht dass da einer ein Spendenkonto für mich einrichtet drüben. Haben die überhaupt eine Regierung.
Ob die mich überhaupt rausfischen würden.
Nee nee.
Lauter welche die bei Null anfangen müssen. Könnt ich ja nicht. Aber wenn die sich den Krieg selbst eingebrockt haben. Und den Hunger. Weiß ja keiner. Die können ja nicht so leben wie wirhier. Reicht hinten und vorne nicht für alle wenn man mal nachrechnet. Aber wir sind ja auch schon länger am Hebel. Haben was aufgebaut.
Vielleicht sind paar anständige bei denen dabei. Aber wie soll man die auseinanderhalten. Solange die nass sind eh nicht.
Und was ich hab dafür hab ich mich krummgelegt. Was haben die gemacht in der Zeit. Alles laufenlassen und jetzt kommen sie her. Die Griechen bestimmt auch bald.
Unsere da oben haben ja kein Plan wie es werden soll wenn noch mehr kommen. Was die alles brauchen von uns. Ojeoje. Wenn die alle arbeiten wollen wie wirhier. Die wollen ja keine Almosen. Wer macht sowas schon freiwillig. Seine Heimat gibt keiner einfach so auf.
Aber was jetzt. Jetzt sperren wir die ein. Verbrecher sind die ja nicht. Ein paar vielleicht schon aber die kommen wohl eher mit dem Flieger.
Jemand muss den Schlamassel in Ordnung bringen. Sonst seh ich schwarz.”
Boote.
Vorboote.
Cherchez la femme
Gewebeproben an der Seine
Den eigenen Text zu hören in der Interpretation eines anderen – nie zuvor erlebt, hab’ meine Arbeit bisher immer selbst vorgetragen. Umso aufregender dieser kleine Lesungsfilm, den ANH an der Seine für mich aufnahm und mir (Merci!) zum Geburtstag schenkte. Als TT-Feature sozusagen und im Rahmen eines >>> neuen Projekts, bei dem er jeden Tag einen kurzen, manchmal sehr kurzen Abschnitt seiner eigenen Arbeit vorliest und sich dabei filmt.
Das wollte ich auch immer mal machen mit meinen Texten, nu’ ist er mir zuvorgekommen! Selfies mal anders… Gerade das Nichtperfekte, Ungezwungene gefällt mir an den Aufnahmen. Die Idee, jeden Tag einen kleinen Ausschnitt aus bereits getaner künstlerischer Arbeit vorzutragen, immer da, wo man sich gerade aufhält, ob im Waschsalon, am Ufer der Seine oder am Schreibtisch. Literatur-Appetizer als Videoblog. Viel Vergnügen dabei.
Madame geht jetzt übrigens mal runter zum Fluss. Gucken, was die Seine so macht heute Nachmittag; vielleicht hat sie ja Zeit, mit mir anzustoßen.
Selbstporträt: Farah Day
Farah Days Tagebuch, 35
Montag, 3. August 2015
LeBlanc und ich waren in Paris vor einem alten, mehrstöckigen Haus mit Garten. Der war verwildert. Das Haus vom Anfang letzten Jahrhunderts, solide gebaut, doch auf charmante Weise heruntergekommen. Die braune Farbe auf den Fensterläden blätterte seit Jahrzehnten, wie es schien, die Fassade hatte schon so viele Regengüsse und Stürme überstanden, dass nicht mehr zu erkennen war, welchen Anstrich sie ursprünglich gehabt hatte. Ich fragte mich kurz, ob ich Lust hätte, den Besitzern des Hauses meine Hilfe anzubieten; wahrscheinlich hatte es ein paar Instandsetzungsmaßnahmen nötig. Ich entschied mich aber dagegen.
Im Garten hielten sich mehrere Menschen auf, alle jünger als wir. Ein buntes Völkchen, alle freundlich und irgendwie beschäftigt. Ein Pärchen ging gerade, als ich von rechts aufs Grundstück kam, durch das schief in den Angeln hängende Gartenpförtchen raus auf die Straße. Eines dieser Jungpaare: schlaksig, das Mädchen bildhübsch, das Haar fast weißblond gefärbt und struppigkurz, bladerunnermäßig.
Ich sah ihnen nach. Ließ den Blick über die übrigen jungen Leute schweifen, die sich auf dem Grundstück aufhielten, ohne uns besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Für mich fühlte es sich vielleicht gerade deswegen an, als gehörte ich sowieso dazu.
Aus diesem Grundgefühl heraus folgte ich auch ohne nachzudenken einer jungen Frau, die als nächste den Garten verließ. Ich ging neben ihr, sprach sie aber nicht an. Wir liefen eine Weile durch die Banlieue, bis sie abbog und durch die offenstehende Tür eines Hauses trat. Ich hinterher. Wir stiegen über eine knarrende, abgetretene Holztreppe hinauf in den zweiten Stock.
In der Wohnung, die wir betraten, ohne dass uns jemand geöffnet hätte, lebte ein Geschöpf Anfang zwanzig, der ebenso Mädchen wie Junge hätte sein können.
Ich erinnere mich nicht, was er/sie zu der jungen Frau sagte; die beiden schienen sich zu kennen. Seltsam, dass ich sofort wusste, ich alleine wäre dieser Person niemals begegnet, so zurückgezogen schien sie zu leben.
Ich fand das junge Wesen wahnsinnig schön – eine Art Momo-Figur. Sie war zurückhaltend, ohne im geringsten ängstlich zu wirken und unterhielt sich leise mit der jungen Frau, die mich hergeführt hatte. Worüber, weiß ich nicht mehr. Weiß nur noch, wie fasziniert ich war, dass jemand sexuell so diffus sein konnte und dabei so anziehend. Oder gerade deswegen.
Jedenfalls dachte ich, die möchte ich unbedingt fotografieren. Das Momo-Geschöpf willigte ein, stellte sich ohne zu zögern auf eine bestimmte Stelle im Wohnzimmer.
Und hier wird der Traum sehr speziell: Ich erinnere mich deutlich an mein andächtiges Gefühl, während ich durch den Sucher sah. Wie sich das Bild des Wohnzimmers durch die Linse vor mir auftat mit dem Geschöpf in der Mitte, rechts und links gefasst von den Flügeltüren, die ins nächste Zimmer führten. Das Bildmotiv samt menschlicher Figur war perfekt symmetrisch, sogar der Teppich, auf dem er/sie stand und mich anblickte. Ein Rorschach-Moment. Die Tapete an den Wänden sepiafarben, das Licht im Raum wie Honig, niemand sagte etwas, der Zwitter stand nur da, sah mich an, meine Begleiterin war ins Nebenzimmer gegangen. Ich fühlte mich durch und durch friedlich.
Ich drückte ab.
Warum mich dieser Traum beschäftigt? Der Symmetrie wegen. Hab’ oft über sie nachgedacht in Bezug auf Beziehungen und Gefühle: wie selten sie stattfindet. Dass wahrscheinlich ein Moment der Symmetrie auch einer des Glücks ist. Wenn man sich ein paar Minuten, Sekunden vielleicht nur, einbilden kann, mit dem Außen, dem Anderen, deckungsgleich zu sein. Wie ruhig man da wird. Als wäre man angekommen.
Dann eine Geste, ein Blick, ein Wort und man wird hinauskatapultiert, ist wieder bei sich und der Differenz. Allein.
In der Traumszene kam diese Differenz nicht vor. Es schien, als wäre ich selbst das Haus, der Garten, die Personen, ja sogar das Bild, das ich in der Wohnung durch den Sucher sah. Einen Augenblick lang spürte ich eine Schönheit und Ruhe, die ich mir nicht beobachtend aneignen musste, weil sie mir bereits eigen war.