Archiv für den Monat: November 2012
Farah Days Tagebuch, 5
Dienstag, 6. November 2012
„Hi“ sagte ich.
Berg drehte sich um, richtete rot unterlaufene Augen auf mich. Seine Lider vibrierten, als versuchten sie seit längerer Zeit ihre Pflicht zu tun, wenigstens mal kurz.
Der schläft nicht, dachte ich. Nichts wie weg.
„Hey“, sagte Berg. Seine Stimme klang, als hätte sie nur ganz wenig Platz.
Jetzt schnell etwas sagen, nach der Zeit fragen und abhauen. Aus seiner rechten Manteltasche sah ein Paar weißer Baumwollhandschuhe hervor. (Wer trägt sowas, ein Antiquar? Oder ein Restaurator.)
Nein, Drogen. Dieses Zeug in Ampullen, die man vor der Nase zerbricht. Zunge schnellt wie ein losgelassenes Gummiband in den Rachenraum, wickelt sich
(hörte sie fast knacken, die Ampulle)
Sachte den Rückzug antreten. (Konnte ich nicht)
Was ist, wenn man das auf die Hände kriegt? Wahrscheinlich ätzend.
Was macht eigentlich die Katze auf dem Beifahrersitz?
~
„Brauchen Sie Handschuhe, wenn Sie mit Ihrer Katze spielen?“ fragte ich.
Berg hat damals nicht geantwortet. (Heute weiß ich, warum)
Nichts hatte sich verändert, alles war verändert. Konnte gut sein, dass gerade die Sonne unterging, dass ich hier schon Stunden vor ihm stand.
War zuvor die Straße hinunter geschlendert, vorne links hatte der Wagen gestanden, ein Mann war ausgestiegen, Pferde, ich hatte an Pferde gedacht. Warum, fiel mir nicht mehr ein.
Scheiß drauf.
Ich setzte mich auf den Asphalt.
Starrte auf zwei Hosenbeine. Sah entlang der Naht nach oben, inspizierte den Schritt, den mit sandfarbenem Strick bedeckten Oberkörper, die Schultern, da war es wieder, dieses unvermittelte Zusammenzucken, ich kannte das jetzt schon. Mein Blick auf seinem Gesicht, das mir zugeneigt war. Schwarzes Haar fiel über die Augen, ich sah nur Nase und Mund, Lippen aufeinander gepresst, vielleicht zweifelnd, nun, bestimmt nicht so verirrt wie ich. (Aber auch, als wäre mir der weitere Verlauf aus der Hand genommen)
Es kam mir in den Sinn, dass es von dort unten aus eventuell leichter wäre zu sprechen, ich
sprach, ich sagte:
„Was würden Sie davon halten, mein Geliebter zu werden?“
Genau, sollte ich mich erheben? Besser nicht. Noch warten. Wie, zum Henker, hatte ich das nur sagen können?
Ich sah unverwandt auf diesen Mund, beobachtete, wie sich die Lippen nach innen zogen jetzt, ein schmaler Strich, darüber geweitete Nasenflügel, als wolle er mich riechen.
So muss es sein, wenn man als letzter in einem Hochhaus sitzt, das gerade gesprengt wird, dachte ich.
(Sag’ was, Mann, die Zeit tickt,
meine)
Berg warf den Kopf in den Nacken. Er sah woanders hin.
“Steh auf”, sagte er.
Vorher/Nachher
Spuren hinterlassen, 7
Farah Days Tagebuch, 4
Samstag, 3. November 2012
Gerade steigt Berg aus dem Wagen. Er zieht den Kamelhaarmantel eng um die breiten Schultern. Es ist Nacht. (Paul ist unterwegs zum Club. Die Information machte schnell die Runde. Die beiden kennen sich nicht.)
Berg kennt nur seinen cremefarbenen Wagen und mich. Wir küssen uns jetzt. Berg küsst erstaunlich gut, es macht ihm Freude. Ich kann auch küssen, aber nicht so gut wie Berg. Ich brauche es nicht so sehr
(dachte ich, bevor ich Berg kennenlernte).
Jetzt habe ich meine Meinung geändert. Bergs Behinderung ist nicht so stark. Er ist langsam mit der Sprache. Sein Haar schimmert im Mondlicht. Unter dem Mantel trägt er schmeichelnde Materialien, dunkel und weich. Irgendwo werden zähe, überlebensfähige Tiere geschoren, damit Berg diese Pullis tragen kann. Ich hab’ ihm erzählt, wo die Tiere herkommen, doch er hat es vergessen. Obwohl es ihm damals gefallen hat, wo die Tiere herkommen.
Berg hat einen untrüglichen Instinkt dafür, sich vorteilhaft zu kleiden; seine Glieder brauchen Halt.
Auf diese Weise wurde ich seiner zum ersten Mal gewahr:
Ich war in der Nähe, als er aus seinem Wagen stieg. Ich sah schwarzes Haar, glänzend wie die Flanken eines erhitzten Pferdes. Ich hielt inne: Blitzartige Assoziationen von galoppierenden Herden, Nüstern, der berauschende Duft nasser Pferdehaut erschienen vor meinem inneren Auge.
Ich blieb stehen.
Ein nichtiger Zufall. Meine Neugier war geweckt. Ich beobachtete, wie sich hinter dem Haarschopf auf merkwürdig ruckende Weise ein (allem Anschein nach) prächtiger Körper aus dem Wagen schob. Die Bewegungen des Fremden waren durch eine hauchdünne Dissonanz gekennzeichnet. Schon in diesem kurzen Augenblick, der unverbindlichen Geste des aus dem Wagen Steigens, bemerkte ich die Störung. Sie erschien mir vertraut und überaus charmant.
Wie Pferde sich durch ständiges Zucken von Mücken zu befreien suchen. (Ich sah sie sofort vor mir.) Mächtige Körper, deren geballte Kraft auch in der Regungslosigkeit offensichtlich ist. Sah vor mir die Ruhe, die nur durch das unvermittelte, heftige Zusammenzucken der unter der Haut liegenden Muskeln unterbrochen wird: so bewegt er sich. Berg. Er vibriert oft kurz, und, wie es scheint, völlig gedankenlos. Der exquisite Mantel schwingt dabei schwer und langsam um den Körper. Es ist immer, als ob ich zwei Wesen beobachte, die zufällig ihren Platz in ein- und demselben Körper gefunden haben: ein schnelles, nervöses, und ein ruhendes, dessen Bewegung durch das erste verursacht wird, um Bruchteile von Sekunden zu spät.
Während Berg an diesem ersten Tag die Autotür schloß, überlegte ich in fieberhafter Eile, unter welchem Vorwand ich mich ihm nähern könnte. Ich war sehr nervös. Die Straße war unbelebt.