Hektor hat Angst

Es fällt ihm heute schwer, sich zu vergegenwärtigen, was er empfindet. Sicher gibt es einen Experten? Hektor wendet sich an sein TV. Es gibt immer Experten. Sie treffen sich in Runden und lassen ihn zuhören. Nonstop.
„Man unterscheidet sechs Basisemotionen“, erläutert einer von ihnen gerade. „Diese sechs sind nicht erlernt, sondern genetisch bedingt.“
Hektor, drinnen im Wohnzimmer, neigt verständig den Kopf.
„Sie werden kulturübergreifend bei allen Menschen in gleicher Weise erkannt und ausgedrückt“, fährt der Mann fort. „Es sind Wut, Trauer, Freude, Überraschung, Ekel und Angst. Die bestimmen uns von ganz unten.“
Gottseidank, denkt Hektor. Es gibt also eine Liste.
„Ist das nicht ein wenig zu übersichtlich?“, fragt der Moderator, der nur Moderator ist.
„Aber ja“, erwidert der Experte kühl. „Es gibt ja noch Verachtung. Und dazu Scham, Schuld, Verlegenheit und Scheu.“

Plausibel, findet Hektor.
Er selbst hantiert erratisch mit seinen Gefühlen. Die meisten Challenges auf Arbeit lassen sich besser erledigen, wenn er nicht weiß, welcher Motor ihn gerade antreibt. Wenn man voll in Fahrt ist, muss das Ding laufen. Fertig. Und die Karosserie muss sitzen. Den Unterbau zu zeigen kann Hektor sich nicht leisten. Plötzlich wäre er exponiert. Nicht ausgeschlossen, dass die Experten dann über ihn talken würden. Aber eben nur über ihn.

– Ob er dann verlegen wäre? Hallo? Es ist kein Zuckerschlecken, ein Beispiel zu sein! Man müsste hart trainieren, um damit umgehen zu können. The biggest Looser.
Hektor überlegt, ob er das Programm wechseln soll, bleibt dann aber am Ball.

Angst und Scham sind seine ältesten, verlässlichsten Gefühle. Spürt er nicht immer eher seine Bedrohungen als seine Möglichkeiten? Der Wert seines So-Seins würde ihn nicht davor schützen, unter die Räder zu kommen.
(Oder?)

Es kommt auf dich nicht an, raunt der Experte. Du hast keine Bedeutung und es gibt keinen Schutz. Tu’, was angesagt ist, und geh’ danach in Deckung, bevor dich jemand angreift. Das ist die verfickte Challenge. Versau’s nicht.

(- Hat der das eben wirklich gesagt?)

Ratschläge finden in Hektors Leben nur wenige statt, seitdem er kein Kind mehr ist. Die kommen durchweg von Männern und zielen darauf ab, ihn zu optimieren. Frauen finden ihn meistens super, aber die sind einfach zu nett, um wahr zu sein. Befürchtet er.

Er streckt die Oberschenkel, die vom langen Sitzen ein wenig krampfen.
Wie er sich dafür schämt, sich als wertlos zu empfinden! Nach allem, was er geleistet hat! Nach der Anerkennung, die ihm immer wieder gezollt wird!
Ge-zollt!
Wie kommt es, dass all die Likes ihn nicht vor sich selbst schützen können? Ist er etwa dumm? Beschädigt? Schwach? Machtlos?
Der alte Loop.

Hektor schließt die Augen. Fast unmerklich sinkt seine rechte Hand in seinen Schritt.
Und jetzt,
endlich,
darf er kriechen.
Unten sein.
Die Challenge ist vorbei.

Er sollte sich schämen für seinen Gehorsam, doch tatsächlich ist der jedes Mal ein Sieg. Hektors Wert bestimmen nun die Experten. Was für eine ungeheure Befreiung, dafür nicht mehr zuständig sein zu müssen! Wie könnte er sie nicht lieben, ihnen nicht verfallen?
Er und die Experten sind eins, sind die gleiche Person: Hektor macht sie zu vollständigen Menschen. Und sie ihn.
Er legt den Kopf nach hinten.

3 Gedanken zu „Hektor hat Angst

  1. Pingback: litblogs lesezeichen 02/2018 | isla volante

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