Das Tainted Talents Wort zum Sonntag, 32

»Haltung«

Aufwändig, dieses: »Hier stehe ich.« So aber tritt man aus der Isolation, nicht nur beim ersten, sondern auch beim zweiten, dritten und hundertsten Mal. Indem man inhaltlich und wertebezogen verortbar ist. Nur auf diese Weise eröffnet man sein eigenes Revier, kann Mitstreiter um sich scharen, Gegner herausfordern, Loyalitäten wecken.
Ich hab’ für meine Schreib-Seminare ein Kästchen mit hundert von mir formulierten Fragen drin, aufkaschiert auf Karton; die auf rotem Hintergrund sind einfach, die blauen schwer. Man zieht ohne groß hinzusehen eine Frage heraus. Die Teilnehmer mögen das Gefühl, ein Los zu ziehen. Eine meiner blauen Fragen lautet: »Für was würdest Du kämpfen?« Das Ding ist schwieriger zu beantworten als »Gegen was würdest Du kämpfen«, denn »gegen« ist reaktiv, während kämpfen »für« eine Sache erstmal voraussetzt, dass man in sich selbst nach Inhalten sucht.
Haltung entwickeln meist nur jene, die starke Motive haben, deren Wurzeln bis in die Kindheit reichen. Sie zu erkennen, abzugrenzen und vor Ausbeutung oder Vernichtung schützen zu müssen, erzeugt Haltung. Wer sich nicht angegriffen fühlt, tut sich schwerer damit: Da reicht es meistens, Meinungen zu entwickeln. Für Meinungen zu kämpfen ist allerdings nicht sehr befriedigend – sie werden relativ, wenn der Wissensstand sich verändert. Eine Haltung dagegen lässt sich von faktischen Argumenten nicht außer Kraft setzen, muss auch nicht unbedingt logisch begründet sein. Der Sohn einer Freundin, damals um die neunzehn Jahre alt, sagte einmal nach einer heftigen Auseinandersetzung zu ihr: »Du hast Recht. Aber was ich sage fühlt sich besser an.«
Ich fand diese Verweigerung von Abstraktion charmant. Kindern und Jugendlichen gesteht man so etwas zu, Erwachsenen weniger – wir sind gehalten, nicht rein aus der Emotion heraus zu argumentieren, denn das setzt eine emphatische Leistung beim Anderen voraus, zu der oft die Bereitschaft fehlt. Also erwarten wir voneinander, abstrahierende Schlüsse aus unserem privaten Empfinden ziehen zu können. Etwas zu wollen. Für etwas zu kämpfen. Für eine Idee, eine Sache zu kämpfen, die womöglich über die Sicherung eigener Bedürfnisse hinausgeht.
Wer macht das?
Alle, die ihre Vorstellungskraft in Anspruch nehmen. Haltung ist unabhängig von Lebensmodell und Beruf; alles, was sie braucht, ist ein entsprechend starker Antrieb. Er muss so stark sein, dass er gegenwärtige Befindlichkeiten zugunsten einer wie auch immer gearteten Manifestation in der Zukunft hintanstellt. Haltung akzeptiert keinen Schnupfen und lässt sich von psychosomatischen Symptomen nicht beeindrucken.

5 Gedanken zu „Das Tainted Talents Wort zum Sonntag, 32

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