Die junge Perserin hatte wie alle anderen zunächst einen Umriss ihres Oberkörpers und Gesichts gezeichnet, den sie mit Adjektiven gefüllt hatte,
die ihre Persönlichkeit und Stimmungslage beschreiben sollten.
Wir hängten alle Zeichnungen an die Wand. Irgendwann im Laufe des Tages stellte ich fest, dass sie ihre erste Zeichnung durch die obige ersetzt hatte.
“Wie kam das zustande?”, fragte ich sie.
“Ich war unzufrieden mit meiner Selbstdarstellung”, erwiderte sie. “Also hab’ ich in der Pause meine Freundin angerufen und sie gefragt,
wie sie mich beschreiben würde, und das hat sie gesagt. Dass ich ein Individuum und unbeschreiblich bin.”
Ohne selbstdarstellerisch zu werden, darf ich philosophiehistorischerweise anmerken, dass es in der mittelalterlichen Sprachphilosophie den geläufigen (damals halt lateinischen) Satz gab: ‘Individuum est ineffabile’, auf Deutsch: ‘Das Individuum ist unsagbar (/unaussprechlich/mit Worten nicht zu fassen)’. Das bezog sich auf die Einsicht, dass sprachliche Begriffe wie ‘rot’, ‘Perserin’, ‘Trainingsgruppe’ per se immer allgemein und abstrakt sind d.h. ihrer Natur nach sich immer auf mehr als eines beziehen (zumindest beziehen können). Das hat zwei Seiten: (1.) Nur so können wir uns überhaupt mit dem Begriff ‘Blog’ über verschiedene (individuelle) Blogs unterhalten (sonst bräuchte man für jedes Einzelding und jede Eigenschaftennuance ein eigenes Wort), gleichzeitig ist (2.) das Individuelle des jeweils einzelnen Blogs damit nicht erfasst. Auch dann nicht, wenn man noch so viele immer detailliertere Beschreibungen dazusetzt (‘ein deutscher Blog’, ‘ein schöner deutscher Blog’, ‘ein schöner deutscher Blog mit Bildern, aus Frankfurt’ etc.). Alle Worte, die auf diese Weise zur Beschreibung des jeweils Einzelnen verwendet werden könnten, können auch (vielleicht in anderen Zusammenstellungen) zur Beschreibung anderer Einzelner verwendet werden – und treffen die außersprachliche Fülle und Einzelheit dieses jeweiligen Einzelnen nie.
Tolles Bild.
@Speed Das ist klasse, hab’s auswendig gelernt, um’s nachher der Perserin vorzutragen! ; )
Sehr elegant. Die Zeichnung, wie die Begründung.
Fand ich auch, Textflüsterer. Nun muss sie dieses Wissen nur noch im realen Leben unterbringen, die Süße.