TTag, Freitag, 1. Oktober 2010. Kreativschelte.

Zu den Kreativ(ärgs)seminaren will ich noch etwas sagen. Da traten gestern einige Meinungen zutage, geschätzte Leser:innen. Von Placebo war die Rede, von Belehrungen und davon, wie es schade sei, dass Menschen nicht einfach aus dem Alltagsleben heraus kreativ sein könnten.
Vorweg: kreativ sein hängt mir zu den Ohren raus. Gräßliches Wort. Keiner meiner Künstlerkollegen würde sich selbst so nennen, auch während des Studiums ist es, soweit ich mich erinnere, kein einziges Mal gefallen. Worüber wir gestern sprachen, ist Kunst. Künstlerisches Schaffen. Wie Leben Material wird. Das hat nichts mit Seminaren zu tun und auch nur sehr am Rande mit dem, was heutzutage unter Kreativität subsumiert wird.
Seminare also. Oder workshops.
Die Kreativtechniken vorstellen.
Haben mit Kunst nichts zu tun.
Sie wollen, im besten Falle, Leute aus ihren Routinen locken. Eben nicht belehren. Eben nicht, Fragen im Keim ersticken, sondern erst einmal welche aus dem „das bringt doch nichts“ – Raum fischen.
Ich weiß nur am Rande, wie das in Firmen läuft. Vermute aber, ein solches Angebot an Mitarbeiter resultiert aus der Erkenntnis, dass ein paar derartige Erfolgserlebnisse sich positiv auf die Leistungsbereitschaft auswirken. So what, schaden kann’s nicht. Glaub’ ich. Wenn die Person, die das Seminar steuert, geeignet ist, eine Art Fremdheit zu repräsentieren, über die man als Teilnehmer stolpern darf. Doch wie gesagt, ich weiß nichts von Firmen – ich arbeite nicht für Firmen. Vielleicht haben Sie Recht mit Ihrem Abscheu. Doch wer weiß schon, ob dem ein- oder anderen Mitarbeiter nicht ein Glühwürmchen zurück bleibt?
Ich selbst gebe Schreibseminare im Auftrag von Stiftungen. Wir spielen da. Laden uns auf, gegenseitig. Testen, was Sätze bewirken, was Geschichten anrichten. Riskieren die Ernstwerdung, immer wieder. Es wird viel gelacht und geweint. Meine Seminare sind, um im gestrigen Bild zu bleiben, Ladestationen, keiner geht da so raus, wie er reingekommen ist. Sagen die jungen Leute. Es ist niemals egal, was dort passiert, für keinen von uns. Das muss man hinkriegen: ein Kraftfeld erzeugen.
Ob das mit Kreativübungen gelingt?
Nö.
Es passiert aber trotzdem. Dazwischen.

23:12
Das Getriebensein, der Selbstanspruch, die Kunst, die etwas riesig verpflichtendes sei und das Leben Material: Meine Güte, die Schaufeln, die ich rief, graben das ganz große Loch.
Ich hoffe ernstlich, ich hab’ in den letzten Tagen nicht den Eindruck erweckt, als käme künstlerische Arbeit nur mit zusammengebissenen Zähnen zustande? Grrr. Schlimm wär’ mir zumut, wenn Sie das dächten.

Bin in Bad Honnef.
N’Abend!
Raten Sie mal, Sie ahnen es schon – ein Schreibseminar…
Erschöpft jetzt. Und doch lässt mich dieses Ding nicht los, dieser Klang, der für mein Gefühl durch die gestrigen und heutigen Kommentare streicht: es gäbe da vielleicht ja doch kein Müssen im Künstlerischen, keinen Zwang, keine Verpflichtung.
Man könne. Auch anders.
Den Elephanten nicht verschlucken. Einen kleineren nehmen. Die Fußfessel ablegen. Oder einfach alles in der Pfeife rauchen.
Nein, ich will Sie nicht zu einem Mischmasch zusammenfassen, liebe Gäste. Ich hab’ mich nur ein bißchen erschrocken. Nicht vor Ihnen, eher vor meinem eigenen hochtrabenden Zähneknirschen. So geht’s mir immer, wenn ich anfange, über Kunst als Idee zu reden, deswegen mach’ ich’s so selten ernsthaft.
Himmel, bin müde…
Schlafen Sie gut : )

13 Gedanken zu „TTag, Freitag, 1. Oktober 2010. Kreativschelte.

  1. Spielen Liebe Phyllis,

    ganz Ihrer Meinung bin ich, dass Workshops (auch solche die sich irgendwie mit “Kreativität” schmücken) Einzelnen helfen können, sich neu zu erfahren, Möglichkeiten zu entdecken, sich zu erproben : spielerisch, in der “als ob”-Situation (“Über die ästhetische Erziehung des Menschen” halte ich für die schönste und bedeutendste Schrift Schillers). Es ist aber nicht gleichgültig, in wessen Auftrag und mit welchem Ziel dies geschieht. Ich nehme an, so wie Sie arbeiten, kann, darf und soll es darum gehen, die Potentiale der einzelnen Teilnehmenden zu entdecken. Das ist etwas ganz anderes als der Verwertungszusammenhang, in dem solche Workshops in Unternehmen stehen und auch in staatlich organisierten Bildungs- oder Repressionszusammenhängen (also Therapien als richterliche Auflagen z.B.). Der Auftrag dort lautet ja, jemanden “verwertbarer” oder ” System angepasster” zu machen. Es geht eben zunächst dort nicht um den Einzelnen, allenfalls mittelbar. Auch dort kann es gelingen, Momente der Befreiung zu initiieren, jemandem zu helfen, “sich aufzuladen”. Es bleibt aber das Unbehagen an Auftrag und Auftraggeber. Ein Spagat, manchmal.

    • Ich hab’ hier, liebe Melusine, vor einem Jahr einmal kurz darüber geschrieben, was diese Seminare für mich bedeuten. Meine eigenen.
      Natürlich ist es nicht gleichgültig, in wessen Auftrag man antritt: die “staatlich organisierten Bildungs- oder Repressionszusammenhänge” und “richterlichen Auflagen” von denen Sie sprechen, sind mir unvertraut.
      Ich selbst suche mir meine Kontexte sehr bewusst aus. Die ästhetische Erziehung des Menschen, zum Beispiel, ist eine der Lieblingsschriften der Stifterin, in deren Auftrag ich Seminare konzipiere.
      Käme allerdings eine Anfrage aus dem Zusammenhang, mit dem Sie offensichtlich zu tun haben… ich würde nicht ablehnen, so unbehaglich der Auftraggeber auch wäre: so viel Zutrauen hätte ich auf jeden Fall, auch in solchen Formaten Ideen keimen zu lassen, die sich der Anpassungsdirektive widersetzen.

    • melusine – siehst du einen gegensatz von “ästhetischer erziehung” und “staatlich organisierten … repressionszusammenhängen” und wenn dann wo ?
      also auf rein sprachlich-klanglicher ebene hat das für mich etwas ziemlich affines.
      nun die frage steht.

    • p.s. – es ist ja eh wieder mal was blöd von mir.

      also beide phrasen wären ja nicht mal ‘sound’, von wegen sprachlich- k l a n g (!) lich.

      ( für mich hat das wohl aber auch inhaltliche konsequenzen, die wahrscheinlich auf kosten von lockerheit gehen )

      nun, ich kenne das buch von schiller nicht …

    • Der Unterschied ist offenkundig, lieber Lobster, das eine ist eine idealistische Vorstellung Schillers, die reflektiert, wie ein Mensch sich entfalten könnte (in einem emphatischen Sinne: sein Menschsein entfalten könnte), das andere sind Erziehungsanstalten, deren Intention im Wesentlichen darin besteht, den Menschen kompatibel mit seinem gesellschaftlichen Umfeld (bzw. verwertbar im ökonomischen System) zu machen. (Ich glaube, was dich stört ist das Wort “Erziehung”. Es hat in der Tat im Deutschen einen unguten Klang. Wie ja auch die Idee des humanistischen Gymnasiums von Humboldt pervertiert wurde durch die “Professors Unrats”, die sie zu einer Karikatur machten.

      Schillers Kernthese – und ich halte sie für großartig – ist: Der Mensch ist nur Mensch, wenn er spielt.

    • Eines Tages besuchte werter Schiller
      halbwegs ebenso werten Goethe.
      Und fand diesen abwesend,
      dafür angefangenes Gedicht vor.
      Welches so begann:
      ‘Er saß an ihres Bettes Rand
      und spielte mit den Flechten.’

      Goethe kehrte heim und fand:
      ‘Dies tat er mit der linken Hand.
      Was tat er mit der rechten?’

      Spielen möcht’ gelernt sein.
      Sonst ist es keins. 🙂

  2. mir gefällt das “wie leben material wird” nicht.
    klingt so nach menschenmaterial, nach humankapital, nach techno.
    nach stetiger verfügbarkeit von maschinenmenschen/menschmaschinen.

    so, genug des ( linden ) beckmesserns.

    sorry.

    • “wie leben material wird” Es kann zum umgebenden Kokon gedeutet werden, aus dem unter Anstrengung immer wieder geschlüpft wird. Hier sind die Anstrengungen vornehmlich künstlerischer Natur, aber gewiss nicht n u r. So versteh’ ich es.

    • Wie Leben Material wird, hat nichts mit “Menschenmaterial” zu tun.
      Ich weiß, man könnte poetischere Formulierungen finden, doch am ehrlichsten ist meines Erachtens diese.
      Be-greifen.
      Formen.
      “Material” ist für mich ein positiv besetztes Wort: schlicht das, womit wir arbeiten.

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