Vor zwei Tagen habe ich hier einen Text eingestellt: “Liebes zukünftiges Ich”.
Er war ganz hübsch, fand ich. Die “Dear future me”- Idee ist aber nicht von mir: Ich hatte sie von einer Website, auf der man sich einen Brief schreiben kann, der einem dann zu einem selbst festgelegten Datum von futureme.org zugestellt wird.
Wozu ich keine Lust hatte. Also, der Website, die ohnedies nur englischsprachig existiert, meine Gedanken anzuvertrauen. Die Idee mochte ich aber. Dachte ich.
Am darauffolgenden Tag jedenfalls, nachdem ich meinen – ich nenn’s mal LZI-Brief – hier eingestellt hatte, gab es wieder Tote und Verletzte in den Nachrichten – und wieder war es ein junger Mann, der unter anderen Umständen genauso gut in einem meiner Schreibworkshops hätte sitzen können.
Dachte ich. Denke ich eigentlich immer, wenn ich das Wort “Amok” lese. Oder “Anschlag”. Ich denke, zweidrei autobiographische Weichenstellungen von der Wiese entfernt, auf der wir schreiben, ein paar Hundert Klicks weiter vom Seminarraum, in dem wir arbeiten, trifft bereits irgendein neuer junger Mann die Entscheidung, zum Alptraum zu werden.
Ich hab’ dann meinen LZI-Brief noch einmal gelesen und ihn von der Hauptseite genommen: Er war zu selbstverständlich selbstbezüglich, fast ein bisschen heiter: als ob draussen nichts passiert wäre. Dabei fühle ich mich seit Wochen, als hielte ich andauernd die Luft an. Als ob ich dadurch Schlimmes verhindern, als ob mein Atemstillstand auch die Zeit mit anhalten könnte.
Es wird Zeit für mich, wieder Luft in die Lungen zu nehmen. Ich brauche Zeit zum Gewahrwerden.
Bei aller Tragik … Es kamen mehr als eine Million Menschen. Es stehen mehr als eine Million Menschen vor dem, was man Migrationshintergrund nennt und an die irgendwer ein Menetekel zu schreiben versucht. Was Sie erleben, ist das überzeugende Votum für das, was die eigentliche Selbstverständlichkeit ist, dass nämlich im Grunde alles (s)einen gewohnten Gang nimmt und auf einem guten weg ist, ja, auf einem guten. Und Sie arbeiten daran und dafür, dass viele junge Menschen auf einem der vielen guten Wege begleite und bestärkt werden.
Ein wenig Beatles:
Hey Jude […] and any tim you feel the pain, refrain, don’t carry the world upon your shoulder …
Ein wenig Kohelet:
[…]
Mit [den Menschen, die] du liebst, genieß das Leben alle Tage deines Lebens voll Windhauch, die er dir unter der Sonne geschenkt hat, alle deine Tage voll Windhauch. Denn das ist dein Anteil am Leben und an dem Besitz, für den du dich unter der Sonne anstrengst. 10 Alles, was deine Hand, solange du Kraft hast, zu tun vorfindet, das tu! Denn es gibt weder Tun noch Rechnen noch Können noch Wissen in der Unterwelt, zu der du unterwegs bist.
[…]
Wie anders als selbstbezüglich soll man sich seinem Nächsten zuwenden, wenn man ihn “wie dich selbst” lieben soll?
cheer up! 🙂
PS … hatte gestern einen schweren Tag und auch einen Tagebucheintrag verfasst, den ich nicht löschen werde. 🙂
*lächelt* Merci.
Und, oh, a propos Vertrauen: Ich hab’ auch eine Lieblingsstelle zum Verschenken:
See the turtle of enormous girth,
on his shell he holds the earth.
His thought is slow, but he is kind.
He holds us all within his mind.
p.s. (Meine Schwester Semioticghosts, die mir diesen Vierzeiler vor Jahren schickte, wusste genau, was sie tat:
dass nämlich auch ich sofort auf dieses tröstliche Bild anspringen würde, dass Gott eine Schildkröte ist.)
I had commented twice … And twice, twoday ate it. I give up.
Ja, Zeit zum Gewahrwerden, sehr richtig und fein formuliert (wie Sie ja immer). Aber was sollte man denn anders machen? Man kann sich ja doch nur hineinbegeben in das, was diese Jungs oder jungen Männer ausmacht. Sie freundlich wie ganz normale Mitmenschen behandeln, die noch fremd sind, teils Unglaubliches erlebt haben, ihnen unter die Arme greifen – und ihnen damit vielleicht auch etwas geben, was möglichen Alptraumentscheidungen entgegenarbeitet. Nur hört man von alledem, was NICHT geschehen ist, was angedacht war vielleicht am Horizont, dann aber verworfen wurde durch ggf. positive Erlebnisse, ja nichts. / ich kann heut noch nicht so richtig formulieren, wahrscheinlich weil auch ich zeit zum holprigen gewahrwerden brauche : )
Ja, genau, von allen, die sich im eigenen Kopf und Herzen g e g e n den Alp entschieden haben, erfährt man herzlich wenig. Ich indes erfahre über meine Arbeit von ihnen – deswegen erzähle ich ja auch so gerne von diesen Begegnungen.
Danke für’s feine Kompliment… aber auch bei mir holpert es gerade ziemlich mit dem Formulieren. Man könnte es auch Krachen nennen. Im Gebälk.
Doch ab nächster Woche hab’ ich endlich wieder meine französische Auszeit. Da nehme ich nur mein Laptop und meine Tusche mit. Naja, “le portable”, wie die Frenchies ihr Handy nennen, wird wohl auch mitkommen. Müssen. Grrr.