“Mach’ eine Kopie von einer deiner Seiten” sage ich zu ihr, nachdem sie ihre Geschichte vorgelesen hat.
“Nimm’ dir einen Edding und streiche so viel aus, dass nur einige Worte pro Zeile stehen bleiben.
Sieh’ deine Seite als Bild an… jedes Wort, das stehen bleibt, nimmt in alle Richtungen Verbindung auf mit den anderen Worten.
Wenn du fertig bist, schau’ dir dein Format an. Wie die übrig gebliebenen Worte jetzt auf dich wirken, welche neue Energie von ihnen ausgeht.”
Sie sieht mich an: “Kann ich raus und auf der Bank arbeiten?”
“Klar. Und lies dir die Worte laut vor. Und langsam.”
…
…
“… Und?” frage ich später. “Erzähl’ mal.”
“Es… ist unheimlicher jetzt”, sagt sie. “Mehr wie ein Gedicht. Man kann sich den Rest dazu denken…”
“Du könntest das Stehengebliebene jetzt noch einmal abtippen und als Gerüst für ein Gedicht nehmen, wenn du magst…”
“Es reimt sich aber nicht”
“Gedichte müssen sich nicht unbedingt reimen.”
Sie überlegt. “Eigentlich mag ich es so, wie es ist. Das Blatt sieht so krank aus…”
“Und krank ist gut?”
“Irgendwie schon…”
“Es ist deine Entscheidung. Kommst du wieder rein jetzt und liest es uns vor?”
“Ok.”
Muss los. Neue Gruppe heute. Wieder versuchen, durchzudringen, Barrikaden zu überlisten, Freude an sprachlichen Überraschungen zu wecken.
Hört sich gut an, Ihr Bericht darüber, wie Sie mit Menschen sinnvoll arbeiten, die ihrerseits sinnvoll mit Texten arbeiten! Ich meinerseits arbeite nur sinnvoll, ohne einen Menschen dazwischen, mit Text, der aber wiederum mit mir spricht und mir versichert, er sei aller erdenklicher Mühe wert, denn er sei meine letzte Chance. Jetzt werden sogar schon die Texte frech, heutzutage!
Sagen Sie ihm, er kriegt was auf die i-Pünktchen, wenn er nicht spurt. Bei meinen hilft das immer!
Ich werde mich auf Sie berufen!
das sich selbstvergessen des gedichts … … und wie Sie es ihren “zöglingen” anvertrauen, rührt mich geradezu zu tränen. zumal ich denke an meine eigene erfahrung, wie man fast alles streichen muss – auch im leben -, um zu sich und dem dichten selbst vorzudringen. vielleicht sagen Sie der poetin auch meinen leitsatz: “der text ist mein hirte, mir wird nichts mangeln.”
lg und seltsam mit Ihnen und ihren schülerInnen verbunden: immer ihr schaf ögyr
“der text ist mein hirte, mir wird nichts mangeln.” Wie ich das nachvollziehen kann! Vielleicht anders, als Sie es für sich verstehen (?), aber das macht ja nichts. Wie oft mich schon ein Text (ein eigener oder der eines anderen) an der Hand genommen und zum frischen Wasser geführt hat … Wunderschöner Leitsatz.
Und wenn ich hier schon kommentiere, dann will ich auch Ihnen, liebe Phyllis, noch sagen, dass es mich ebenfalls sehr rührt, wie Sie die jungen Leute auf die Spur zu setzen verstehen. Ich glaube, die “Schäfchen” sind richtig gut aufgehoben bei Ihnen.
Liebe Grüße,
Iris
Liebe Iris, ich versuche immer erst einmal, die Spuren zu lesen, die Erfahrungen mit Anderen bei “meinen” Leuten hinterlassen haben, bevor ich ihnen eine neue anbiete. Nie ist genug Zeit! Immer, wenn sich die Antennen wirklich aufgerichtet haben, ist alles schon wieder vorbei. Ich wünschte, ich hätte ein großes Haus, zu dem alle, die wollen, immer wieder zurückkehren könnten, auch nach Jahren noch.
Liebe Grüße,
Phyllis
Lieber Ögyr, ich kann mich Iris nur anschließen – der Text als Hirte –
wobei mich interessieren würde, ob meine jungen Leute von diesem Bild erfasst ebenso würden wie Iris und ich. Wahrscheinlich eher nicht. Die Mehrzahl der Heranwachsenden, mit denen ich arbeite, hat so große Sehnsucht nach realer Zuwendung, dass die Lust an der Abstraktion noch kaum Wege findet. Oder braucht.
Ihr Kommentar hat mich übrigens auch ziemlich gerührt, Sie Schaf : ) Herzlich, Phyllis