Madame sprach gestern im getäfelten Raum des Weltkulturen Museum vor einer stattlichen Anzahl von Gästen über die Arbeit der vergangenen Monate. Zu welchem Anlass, hatte ich ja gestern schon erzählt. Und da mir der gestrige Tag immer noch nachgeht mit allen seinen Nervositäten und Höhepunkten und Erleichterungen (((nicht zu vergessen unverhohlen vorgetragenen Triumphgesten))) dachte ich, Sie möchten vielleicht auch ein bisschen daran teilhaben. Deswegen hier meine Rede:
Was für ein Vorhaben!
Dreiundzwanzig Frauen mit insgesamt siebzehn verschiedenen Muttersprachen haben sich seit September vergangenen Jahres einmal monatlich im Dachgeschoss des Weltkulturen Museum zusammengefunden, um sich dem Abenteuer des Schreibens in deutscher Sprache hinzugeben.
– Was daran abenteuerlich ist, fragen Sie?
Nun, zunächst einmal ist ja schon das >>> SABA-Stipendium selbst ein Abenteuer für die Frauen.
Denn wer wagt das schon, was sie gewagt haben? Wer von uns traut sich, die gut eingespielten Strukturen in Frage zu stellen, die unser Leben ausmachen, um nach Weisheit zu suchen, genau so, wie es der legendären Königin von Saba nachgesagt wird?
Das Älterwerden, beispielsweise, gibt uns eine Struktur vor.
Die Kinder, Eheverhältnisse, Freundeskreise, die sozialen Bündnisse.
Gut kochen zu können gibt Struktur.
Ein bestimmtes Äußeres zu haben.
Das Nervenkostüm, ob stark oder schwach, gibt Struktur.
Auch ein gerüttelt Maß, wie es meine Großmutter genannt hätte, also über ein gerüttelt Maß an Vernunft zu verfügen, gibt Struktur.
Ist das denn nicht genug für ein stabiles und gutes Leben? Warum weitersuchen nach neuen Herausforderungen?
Womit wir schon ein bisschen beim Thema wären… denn haben Sie sich nicht eben gefragt, woher sie stammt, diese Redewendung? Ein „gerüttelt Maß“?
Gerüttelt bezeichnet eine ansehnliche Menge von etwas. Es ist ein altes Händler-Wort.
Stellen Sie vor, sie haben ein Kilo Kaffee gekauft, doch der Behälter in ihrer Küche, in dem sie ihren Kaffee aufbewahren, ist ein bisschen zu klein. Sie müssen also das Gefäß vorsichtig etwas rütteln, damit sie ihre Kaffeedose zukriegen. Vielleicht schlagen sie sie auch ein paar Mal vorsichtig auf dem Küchentisch auf, dann setzt sich das Pulver besser. Und schließlich klappen sie den Deckel zu mit dem guten Gefühl, wieder eine bis an den Rand gefüllte Dose Kaffee im Schrank stehen zu haben.
Irgendwann hat dann jemand angefangen, das gerüttelt Maß auch für andere Zusammenhänge zu verwenden. Wenn man ausdrücken wollte, dass wirklich viel von etwas verwendet wurde.
Man kann jemandem ein gerüttelt Maß an Fragen an den Kopf werfen, ebenso, wie man versuchen kann, sich ein gerüttelt Maß an Bildung anzueignen. Oder an Wortschatz.
Inzwischen wird die Redewendung nur noch selten verwendet, aber zum Ausgleich sind unzählige andere entstanden. Viele von ihnen auch durch die Vermischung der Kulturen.
– Warum ich Ihnen das erzähle?
Ganz einfach, um den Unterschied zu zeigen.
Wenn man nämlich eine Sprache lernt, mit Leidenschaft lernt, wird man zu einem Gefäß, das immer mitwächst. Egal, wie viele Wörter man schon in sich aufbewahrt, man ist nie zu klein für die neuen.
Was mich daran erinnert, wie meine Freundin Parastou vor vielen, vielen Jahren aus Teheran nach Deutschland kam, um an der Kunsthochschule Malerei zu studieren, an der auch ich studierte.
Als ich sie kennen lernte, sprach sie noch sehr gebrochen Deutsch, doch je enger unsere Freundschaft wurde, desto umfangreicher wurde ihr Wortschatz und desto mehr Freude bekam sie an der deutschen Sprache.
Immer, wenn wir, ihre Freunde, ein Wort oder eine Redewendung fanden, die wir besonders mochten, schrieben wir sie in Parastous Küche an die Wörterwand. Als Geschenk.
Die mit den Jahren immer umfangreichere Wörtersammlung war für uns alle ein Schatz, nicht nur für meine Freundin: da schrieb auch immer wieder mal jemand einen Begriff oder eine Redewendung dazu, die man selbst schon lange nicht mehr benutzt, oder sogar vorher noch nicht gekannt hatte.
So lernten wir miteinander.
Eine der SABA-Stipendiatinnen sagte kürzlich, ein guter Lehrer müsse auch ein guter Freund sein können. Man kann es auch umgekehrt formulieren: Gute Freunde sollten auch gute Lehrer sein wollen.
Wir alle lernen voneinander, nein, besser, wir alle sind mittendrin im Lernen.
Es gibt kein abgeschlossenes Lernen.
Leute, die glauben, sie wüssten schon alles, sind keine interessanten Gesprächspartner, finden sie nicht? Viel spannender sind die ewig Neugierigen. Die Hungrigen. Die Wissensdurstigen. Also alle diejenigen, die bereit sind, sich zu bewegen, etwas in Gang zu setzen, meinetwegen auch zu kämpfen, wenn es nötig ist, um ihrer Lebenslust und ihrem Wissensdurst Platz zu verschaffen.
Das ist etwas, das die SABA-Frauen wissen. Was auch ihre Familien und Freunde wissen, die sie auf dem neuen Weg unterstützen, den sie eingeschlagen haben.
…Einen Weg einschlagen: Das klingt doch so, als lägen da einige Hindernisse quer drüber, stimmt’s? Um einen Weg einzuschlagen, braucht man manchmal eine Axt oder zumindest eine Machete, um ihn freizubekommen, nicht wahr?
Was Hindernisse sind, wissen wir alle. Davon haben wir alle schon ein gerüttelt Maß erlebt.
Aber – Achtung, neue Redewendung! – klein beigeben wollen wir doch nicht. Und die SABA-Frauen erst recht nicht.
… „Klein beigeben“ stammt übrigens aus dem Kartenspiel. Ein Spieler gibt klein bei, wenn er hohen Karten des Gegenspielers nichts entgegenzusetzen hat und nur kleine, also wertlose Karten ins Spiel geben kann.
Will heißen: Man gibt auf. Klein beigeben heißt resignieren.
Und das ist so ziemlich das Gegenteil dessen, was wir die vergangenen Monate miteinander getan haben.
Wir haben einen Weg eingeschlagen, zusammen, einfach mit Lust und Sympathie und Neugier auf das, was in unserer Reichweite liegt. Denn Wörter haben den ungeheuren Vorteil, dass sie einfach um uns herumschwirren. Sie kosten nichts! Man muss sie nur einfangen und zum Schreiben verwenden. Je mehr man davon in sich aufbewahrt, desto leichter wird das mit dem Schreiben.
Ein Wortschatz, im Gegensatz zu anderen Schätzen, wird nicht weniger, wenn man ihn verschenkt. Ist das nicht großartig?
Deswegen haben wir das Einfangen von Wörtern geübt. Wir haben mit der Sprache gespielt. Uns ist mit der Zeit auch klar geworden, welche Schätze wir in unseren Erinnerungen mit uns tragen! Wie wir sie mit dem Schreiben ans Licht bringen und mit anderen teilen können und wie stark das macht.
Sie werden sehen, liebe Gäste, wie unterschiedlich die Texte sind, die wir ihnen heute zeigen und vorlesen. Manche stehen ganz frei, manche sind zu Geschichten geworden, manche sind zärtlich, andere frech und ein paar sind so leise, dass sie wirken, als würden sie einem ins Ohr geflüstert.
Ich bin sehr stolz, ein Teil von alldem gewesen zu sein.
Es war mir eine Ehre, Euch manchmal einen Stubs in die ein- oder andere Richtung geben zu dürfen, anregen zu dürfen, animieren zu dürfen. Ihr seid mir ans Herz gewachsen, Ihr SABA-Frauen. Ich bin stolz auf Euch.
Ihr habt mir ein gerüttelt Maß an Erfahrungen geschenkt. Und wenn mir irgendwann mal der Mut fehlen sollte, mich auf ein Abenteuer einzulassen, werde ich an Euch denken und mit welcher Courage Ihr den Weg in ein neues Lernen eingeschlagen habt.
Ganz ohne Axt.
Ich danke euch.
Und hier >>> noch ein bisschen Presse.
Mit dieser Rede haben Sie über alle ästhetischen Rahmen von Sprache weit hinaus gewiesen. An solchen Überlegungen erfreue ich mich immer wieder auf’s Neue, ohne dessen jemals müde werden zu können. Merci dafür, liebe Phyllis.
Eine beispielhafte Reflexion, zu welcher mich die Redewendung “klein beigeben” inspiriert hat, will ich dazu legen: Ich gebe klein bei, wenn ich den Kartenstich nicht machen kann. Meist herrscht ja Stich- und Farbzwang. Doch ist’s nicht ganz unwesentlich, wem der Stich zuwächst. Dem Gegner überlasse ich so wenig Punkte als möglich. Bei meinem Partner hingegen sieht die Sache anders aus, sofern ich nicht eine zu erwartende Stichmöglichkeit taktisch verteidigend wahren will. Ich kann und muss also auch dann Entscheidungsspielräume ausmessen, wenn ich den Stich nicht mache.
Dann gibt’s aber auch Negativ-Spielrunden, in denen möglichst wenig Stiche oder Punkte gesammelt werden sollen. Klein beigeben zu können bedeutet dann, einen mitunter entscheidenden Vorteil zu erlangen – zumindest aber, nicht in Nachteil zu geraten. Diese Facette wird sprachlich meist ausgeblendet.
Ich gebe klein bei.
Wer spielt mit mir?
Wer spielt gegen mich?
Welches Spiel, welche Regeln?
In welcher Phase meines Lebens?
Klein beigeben zu können mag auch große (Überlebens)Kunst sein.
An diesem Beispiel mache ich mir wieder einmal bewusst, wie sehr Sprache das Denken und damit auch die Sicht auf die Welt formt. Und wie wirksam das Erspüren einer fremden Sprache sein kann – nichts weniger als Persönlichkeit gestaltend. Ich bilde mir ein zu verstehen, was Sie mit Ihrer Arbeit zu bewirken vermögen und welchen Gewinn Sie für Ihre Stipendiatinnen bereithalten. Die ausgesprochen kompetente Absicht dazu leuchtet aus dem ganzen Text hervor. Chapeau, Madame!
(gibt’s denn ästhetische Kategorien für die Schönheit solchen Wirkens?)
Spannend: Ihre Ergänzung zum klein beigeben, lieber Textflüsterer. Ich hätte mich daran erinnern müssen – meiner Großmutter wegen, die einmal wöchentlich mit ihren Damen Skat spielte. Ich saß als kleines Mädchen oft dabei, kannte natürlich auch diese Runden, bei denen man keine Stiche machen darf. Erinnere mich jetzt sogar, dass ich das damals interessant fand: keine Punkte machen zu dürfen.
Eine befreiende Vorstellung, sich mal aus dem Vorstellungsrahmen des Punktenmüssens zu lösen. Alles eine Frage des Zeitpunkts und des Kontextes – da bin ich complètement d’accord.
Merci für diesen Denkanstoß.
(Die Schönheit liegt im Auge … Sie wissen schon : )
Ein schöne und berührende Rede, die nicht nur etwas vom Geist des Projekts/der Gruppe transportiert, sondern den Zuhörern auch etwas von der Lernlust, Aufmerksamkeitslust vermittelt, die im (unüblich) genauen Betrachten von Sprache liegen kann. Dass ‘einschlagen’ eine metaphorische [Achtung Metapher:] Wurzel hat, ist mir noch gar nie aufgefallen!
Gute Sache, alles!
PS: Bei eigenen Recherchen zu einem ganz anderen Thema bin ich die Tage auch mal auf das Stichwort SABA gestoßen. Eine Doku über die Nachkriegsgeschichte des gleichnamigen Elektroherstellers. Vielleicht können Sie den Film mal verwenden, auch als Fenster auf deutsche Kultur- und Mentalitätsgeschichte. Würde mich ja sehr interessieren, wie solches alte Filmmaterial auf jemanden wirkt, der aus einer (was heißt das eigentlich?:) fremden Kultur kommt.
Ich wünschte nur, cher Speed, solche gemeinsamen Rastplätze ließen sich kontinuierlicher gestalten. Verstetigen, wie man im Stiftungsjargon sagt. Den Wortschatz zu füllen, neu aufzuladen, sich gegenseitig mit irisierenden sprachlichen Details zu füttern: wäre das der Weg selbst und nicht nur ein Picknick am Rande desselben, ich wäre dabei.
Überlege auch schon geraume Zeit (Achtung, Redewendung!), wie sich das machen ließe.
Guter Tipp, der Film – merci!