Don’t push the river

Ich war früher als erwartet mit dem, was der Tag an Aufgaben hatte, fertig geworden. Die Wolkendecke war gerissen, hatte Licht durchgelassen: mild wie ein Streicheln, das mich vergessen ließ, wie andernorts Tausende gerade unterm Wasser stöhnen und wieder anderswo Abertausende unter seinem Fehlen.
Es war später Nachmittag. Ich hatte keine Erledigungen mehr, mir tat nichts weh. Morgens war ich wie immer durch den Park getrabt, hatte anschließend auf der verwitterten Bank einige Sit-ups gemacht, einen Satz Dips für den Trizeps, zwei Runden Liegestütz, die Schultergelenke mobilisiert und meinem Nacken, den meine Trainerin immer den „Schinken“ nennt, weil er sich von der Last der frommen Denkungsart so herauswölbt, als müsse man bald Scheiben von ihm abschneiden, hatte also den Schinken ein wenig gestreckt und ihm gut zugesprochen.
Auf dem Nachhauseweg hob ich eine Samenschote meines Lieblingsbaums auf, dunkelbraun, lang wie eine Stangenbohne; die rascheln den ganzen Winter über, weil der Baum sie erst im Frühjahr abwirft. Es gibt nur den einen im Park, er hat es nicht eilig, er hat keine Konkurrenz. Vier Kapseln pulte ich heraus und pflanzte sie in einen großen Topf.
Der regnerische Tag, anschließend, war mit Auftragsschreiben hingegangen.
Ich stand auf und reckte mich. Unsicher, ob dem Frieden zu trauen sei, nach einigen Runden durch die Wohnung, weg vom Computer, zurück, Emails gecheckt, Listen studiert, ist denn wirklich nicht etwas zu tun, das ich übersehen haben könnte? Es war doch erst vier, da wird noch gearbeitet. Wer nichts Zielführendes tut um vier, führt ein Lotterleben. Ah, Kindheitswort.
Ich ging auf den Balkon. Auf dem kleinen Tisch neben der Liege lag ein Buch und nickte mir zu. >>> Der innere Kompass, Wege der Spiritualität, ein saftiges Stück Text. Jorge Bucay.
Hm.
Dessen Lesung ich verpasst hatte, tags zuvor, obwohl ich gebeten worden war, über sie zu schreiben, sogar eine Pressekarte war hinterlegt gewesen. Hmgrrr. Ich war auch erschienen, selbstverständlich, nur am falschen Ort. Einfach falsch abgespeichert.
Das Lesezeichen steckte in der Mitte des Buches. Ich rollte mich im Sessel zusammen und schlug auf.
Nach einiger Zeit spürte ich, wie sich eine Hand auf meinen Nacken legte.
Sorry wegen gestern, sagte ich.
Ach, das, sagte Bucay. Du hast nichts verpasst. Du hast noch nie etwas verpasst.
Ein guter Satz, sagte ich.
Den hab’ ich von Dir, erwiderte er. Ich schreib’ ihn in mein nächstes Buch.

16 Gedanken zu „Don’t push the river

  1. Wenn ich mir so überlege, was ich durch mein Lotterleben so alles verpaßt habe!!! Grundgütiger! Nicht mal die ganze Welt habe ich bereist, weil so ein Leben ja weder überflüssiges Geld bringt noch Urlaubstage bereithält. Würde ich allerdings nachmittags um vier immer planmäßig Zielführendes vor Augen gehabt haben, so hätte ich wohl, nach allem, was man so hört vom Arbeitsalltag da draußen, mein mir so teures Lotterleben verpaßt – und das wäre doch w i r k l i c h schade drum gewesen, finde ich!

  2. Ich liebe den Konjunktiv Und die starken Formen des Imperfekts. Machen Soe nur so weiter, Sie werden achon sehen, was Sie davon haben!

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