Das Wir – Gefühl

Vor ein paar Tagen saß ich abends mit meiner Mutter am Kamin. Auf dem Land. Das erinnert mich daran, wie ich dort zu meinem Vierzigsten ein großes Fest gab. Und eine Freundin, die dort noch nie gewesen war, eine bürgerlich-wohlsituierte Dame, den Hang zum Haus heraufschritt. Oben angekommen und nachdem sie mich umarmt hatte, blickte sie sich um, besah sich die ganzen selbstgemachten Masken und Objekte an der Fassade, die Holzterrasse mit den Hängematten, die Gartenhütte und das geschichtete Feuerholz links davon und sagte: „Wunderschön! Ist das Euer Landhaus?“ Und wie ich lächelnd erwiderte: „Das ist unser einziges Haus!“
Aber zurück. Kassetten.
„Ich hab’ die seitdem nie wieder abgehört. Wollen wir?“
„Ja.“
Wir stellten den alten Ghettoblaster (Sie erinnern sich, die Dinger, in die man Kassetten stecken kann) zwischen uns auf ein schrammeliges Beistelltischchen und lauschten unseren alten Ichs. „1974“ las ich auf einer, „Frühstück mit …“ – und dann die Namen. Wir waren zu neunt auf der Terrasse draußen am großen Tisch. Vier von uns sind inzwischen Geister.
Meine Mutter und ich saßen drei Stunden am Kamin und hörten zu. Es war ein ernstes Ritual, auch wenn viel Gelächter vom Band kam. Die Aufnahmen sind krackelig und von kleinen Knall-Geräuschen durchsetzt – immer wenn wir Kinder ans Mikro stießen. Es dauerte eine Weile, bis ich alle Stimmen erkannte; die vergisst man als erstes, las ich mal. Meine eigene Kinderstimme war die einzige, die ich nicht erkannte. Ich war sehr weit entfernt von dem Mädchen, das da sprach. Während dieser drei Stunden fragte ich mich die ganze Zeit, was aus diesem jungen Ich mit der weichen, sorgfältig artikulierenden Stimme geworden ist. Manchmal redet es französisch. An einer anderen Stelle auf dem Band erzählt es eine Geschichte nach, die es in der Schule gehört hat. Die Fragen der Mutter bewegen das Kind dazu, genauer zu erzählen, Lücken im Ablauf des Geschehens zu füllen.

Es geht mir nicht um Sentimentalität, wenn ich Ihnen das berichte. Ich spreche davon, weil es so seltsam war. Wie viele von mir gibt es und wie viele davon spüre ich? Ein Ich-Konstrukt, will mir scheinen, ist ein fragmentarisches, trügerisches Gebilde. Es besteht hauptsächlich aus Vergangenheit – aber diese Erinnerungen vermitteln sich über Impulse, die an gegenwärtige Möglichkeiten des Empfindens gekoppelt sind. Was aber, wenn dieses gegenwärtige Empfinden ältere Frequenzen gar nicht mehr wahrnehmen kann? Wenn man bestimmte Kanäle aufgrund fehlender Benutzung einfach klammheimlich dichtgemacht hat? Merkt man das? Und, falls man es nicht merkt, ist das Ich-Bewusstsein dann nicht einfach ein ziemlich automatisch agierendes Reiz-Reaktions-Gebilde?

Das sind alles noch diffuse Fragen. Ich komme darauf, weil ich gestern im Gespräch mit einem Freund sagte, dass ich echte Empathie für ein seltenes Phänomen halte. Er widersprach vehement: ohne die könnten doch keine Bücher entstehen, keine Kunst, keine Beziehungen und kein reales Gespräch. Ich vermute aber, das sind alles Konstruktionen. Autobiographisch motivierte Zu-neigungen. Kein wirkliches Miterleben. Möglich, dass Eltern Empathie können: wenn sie sich in ihren Kindern suchen und wiedererkennen. Ich zumindest, die ich keine Mutter bin, spürte beim Abhören dieser Bänder, dass ich nur einen Bruchteil meines vergangenen Erlebens bewusst zur Verfügung habe. Nur das, was ich zum Handeln und Überleben in der Gegenwart brauche, ist wirklich verfügbar. Das Gehirn neigt zum Energiesparen: die Reflexe nehmen einen in Haft. Wenn ich also noch nicht mal in der Lage bin, meine eigenen vielen vergangenen Ichs zu spüren, wie soll ich dann wirklich mitempfinden, was Andere fühlen? Aus welchem Reservoir speist sich dann Empathie?

Falls Ihnen das alles zu wirr ist, sehen Sie’s mir nach – hab’ einen Bilderbuchbrummschädel heute. Einen schönen Frühlingssonntag Ihnen allen!
(Ist heute Sonntag??)

Herzlich schniefend,

Miss TT

8 Gedanken zu „Das Wir – Gefühl

  1. Woher wissen Sie, mit was ich mich im Moment beschäftige? Ich überarbeite zur Zeit einen älteren Text, um ihn für einen neuen Zusammenhang (und darüberhinaus auch für meine Website) fruchtbar zu machen, aber er ist wohl zu lang (2 Normseiten), ihn hier einzustellen. Oder?

    Das Sich-selbst-Erkennen im Spiegel ist ohne Zweifel ein Beleg für das Bewußtsein seiner selbst. Einigen höheren Tieren wird ein solches Bewußtsein zuerkannt, dem Menschen ist es essentiell. Das „andere Ich” im Spiegel zudem als ein (potentielles) „Du” erkennen zu können ist darüber hinaus Grundlage der Fähigkeit zur Empathie, mithin Grundlage des Zoon politikon, des sich in Gesellschaft handelnd entfaltenden Menschen, überhaupt. Der antike Narziß in Ovids Metamorphosen geht zugrunde, als er sich in sein eigenes Ebenbild verliebt, dann aber erkennen muß, daß ihm der Gegenstand seiner Liebe unerreichbar bleiben wird. Die Sehnsucht findet kein Gegenüber, es kommt nicht zu einer Vereinigung, selbst nicht im Tod. Jacques Lacan wendet sich in seinen Schriften, vor allem auch in ‘Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion’ (Konzept 1936; 1949), gegen die Vorstellung eines eindeutigen Ich als Kern des Subjekts. Die Ich-Bildung findet nach Lacan noch vor dem Erlernen der Sprache statt im Wechselspiel von Selbsterfahrung und visueller Wahrnehmung, und erst mit dem Eintritt in die Sprache nimmt das so geformte Ich einen im Zeichensystem vorgeformten Kontakt mit dem Anderen auf. Auch Martin Buber beschreibt in ‘Ich und Du’ (1923) das Ich des Menschen als grundsätzlich „zwiefältig nach seiner zwiefältigen Haltung”. Buber sieht in den Grundworten der Sprache, den Wortpaaren Ich-Du und Ich-Es, die wesentliche Grundbestimmung des Menschen als denkendes und handelndes Individuum. Ihm ist „Ich sein und Ich sprechen” eins, aber auch das „Du” ist ihm kein Außen im Sinne des „Es”, denn das Es grenzt an andere Es, während das Du nicht grenzt, dennoch aber die „Welt der Beziehung” stiftet. Hans-Georg Gadamer betont, daß das Verstehen des Anderen, respektive des Du, „eine Weise der Ichbezogenheit ist“, und da dies „ein wechselseitiges Verhältnis ist, macht es die Wirklichkeit des Ich-Du-Verhältnisses selbst mit aus“. Gadamer sieht in diesem gegenseitigen Anspruch, den Anderen sogar besser zu verstehen als er sich selbst, auch ein Moment des (ständig umkämpften) Herrschaftsanspruches des einen Ich über ein anderes.
    Der Mensch befragt sich immerwährend selbst, solange er bei Bewußtsein ist. Er fragt nach dem Grund seines Handelns, also auch nach den Gründen anderer, mit deren Handeln das eigene abzugleichen ist. Dieser Prozeß ist somit gegründet auf dem je eigenen Trieb und Willen des Menschen, zu überleben, zu überstehen, zu wirken, zu sein. Die Selbstbefragung ist dazu erstes Mittel, die Befragung anderer scheint dagegen, oberflächlich betrachtet, zunächst nachrangig. Bedenkt man jedoch, daß bereits die vermeintlich „reine” Selbstbefragung der Konfrontation des eigenen Ich mit unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten und Handlungsfolgen bedarf, so wird deutlich, daß immer bereits (mindestens) zwei Möglichkeiten zur Disposition stehen, also auch zwei „Ich” als Handlungsträger. Daran vermag auch eine spätere Erkenntnis, man habe trotz des vorherigen Abwägens als das Ich, als das man sich kennt, nicht anders handeln können, nichts zu ändern, liegt doch das teleologische Moment, die Zielgerichtetheit, ohnehin dem eigenen Wollen zugrunde. Das Gefühl, als Individuum frei entscheiden zu können, obgleich ich als das immer noch selbe Individuum später erkenne (oder erkennen will), daß nur diese tatsächlich getroffene Entscheidung hat möglich sein können, ist somit wesentlich für das Selbstbewußtsein des Menschen, dessen handlungsauslösendes Sein naturgemäß ausschließlich in der Gegenwart stattfindet. Arthur Schopenhauer betont in ‘Die Welt als Wille und Vorstellung’ (1818) diesen Aspekt, wenn er schreibt, die Form der Erscheinung des Willens, also die Form des Lebens oder die Realität, sei eigentlich nur die Gegenwart, nicht Zukunft noch Vergangenheit. Für Schopenhauer ist die Bewußtwerdung des Menschen, ähnlich wie später für Martin Buber, nur als ein Gegen- und Miteinander denkbar, auch wenn Schopenhauer dies etwas dramatischer ausdrückt. Die Duplizität des menschlichen Wesens ruht, so Schopenhauer, nicht in einer für sich bestehenden Einheit, so daß der Versuch, mit der Absicht einer völligen Besinnung auf sich selbst in sich zu gehen, nur damit enden könne, sich in einer bodenlosen Leere zu verlieren, wo nichts weiter als ein bestandloses Gespenst zu erhaschen sei.

    • Lieber Norbert, schönen Dank! Sie stellen das Thema auf die Füße – nichts anderes hatte ich von Ihnen erwartet. Und selbstverständlich können Sie hier auf TT jede beliebige Länge Text einstellen, wer sollte Sie daran hindern?
      (Aber wie wär’s mit erläuternden Scribbles dazu? Fühl’ mich heut’ so wolkig unabstrakt ; )

    • Zum Scribbeln fehlt mir heute, liebe Phyllis, die innere Unruhe, trotz Frühling, Heuschnupfen, viel Kaffee und schönem Wetter. Wahrscheinlich ist die Unruhe Opfer der geklauten Stunde geworden (das sind allein in Deutschland gute 80 Millionen!), aber wäre ich ausreichend präpariert zum Kritzeln, so würden es wohl Kopffüßler werden, die sich nicht entscheiden können, ob sie nun Kopf- oder Fußballspielen sollen. Ich glaub’, ich widme mich heute auch mal dem wolkigwattigen Unabstrakten 😉

    • Von wegen blauer Montag, und auch keine blaue Blume in Sicht. Hab’ bis Mittags einen Workshop geleitet, dann ein Briefing für zwei für eine neue Stiftung zu schreibende Texte entgegengenommen, und nu’ sitze ich hier, vollgepumpt mit Grippostad, und beschließe soeben (!), erstmal ein Künstlerschläfchen zu machen, bevor ich weiter in die Tasten haue. Sonnenschein hin- oder her, der Körper sagt: Augen zumachen. Und ich folge. Eilends! : )

      p.s. Segnungen schaden nicht!

  2. “Sind … … zwei zu viel, um frei zu sein, oder brauch’ ich Dich, um ich zu sein” (Blumfeld auf einem Album, das bezeichnender Weise “Ich-Maschine” heißt): Wir sind eben Produkte unseres Umfelds, der Gesellschaft etc. — …

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