Rascheleis

Ich bin Homechiller sagte gestern eine junge Frau in meinem Workshop. Ein Begriff, der mir sofort gefiel, insbesondere, als er mit einem Lächeln vorgetragen wurde. Es war leider kein echtes: Im Laufe des Vormittags bemerkte ich, dass unser Tisch in zwei Lager gespalten war. Die weniger chilligen Teilnehmerinnen saßen alle links, die Coolen alle rechts.
Es dauert nicht lange, um zu spüren, welche Individuen in einer Gruppe von den Coolen abgedrängt werden: Sie tragen die Pein im Gesicht. Es ist, als müssten sie ständig durch Rascheleis schwimmen. Mit diesem unheimlichen Wort erwachte ich heute Morgen. Früh übt sich, was ein Ausgrenzer werden will. Oder eine Ausgrenzerin: auch Frauen können das ganz hervorragend.

Ich muss los.

Sorry, dass ich noch nicht auf Ihre Kommentare der letzten Tage reagiert habe – ich hole das nach!

17:54
So. Heute lief alles ganz anders. Was damit begann, dass ich mich ins schwarze Kostüm schmiss morgens, anstelle der Jeans von gestern. Ich hatte so einen Verdacht. Manche Gruppen von Jugendlichen schätzen die selbstverständlich angebotene Augenhöhe mit der Dozentin, andere möchten dafür was tun: Es soll einen Unterschied geben. Eine Distanz, gegen die sie sich abgrenzen können. Sollen die sich doch lieber an mir abarbeiten, als an denen von der linken Tischseite, dachte ich.
Erschien also kostümiert und ein bißchen ernst.
Guter Start.
Ich verlor kein Wort mehr zu den gestrigen Spannungen, das hatte ich gestern schon. Warum die Außenseiter etikettieren? Stattdessen fragte ich die Gruppe, was das Schreiben für sie bewirken könnte. Was sich denn in ihrem Leben verändern würde: wenn sie sich schriftlich besser ausdrücken könnten. Ich erzählte auch was von mir, aber nicht viel, hörte mehr zu. Von vielen kam erstmal nichts. Dann häufelten wir die ersten Statements auf den Tisch. Manche lachte ich ein bißchen aus. Im Ernst? fragte ich. Und d a s genügt Dir? Sprach jede Teilnehmerin mit Namen an. Fragte, was wäre, wenn Ihr so gut schreiben könntet wie Ihr ausseht?
Dafür gab’s die ersten Lacher.
Ich sagte, heute werde ich euch fordern, das gestern war Kinderkram.
Ich sagte, ich werde nachher mit jeder von Euch ihren Text einzeln durchgehen. Ich setz’ mich da drüben hin, und was wir besprechen, geht sonst niemanden etwas an.
Ich sagte, jeder kann, niemand muss.
Die haben heute richtig gut gearbeitet. Irgendwie haben sie bemerkt, dass meine Ansagen keine Tricks waren, sondern ein Angebot für ein Workout. Training ist cool.

Eine Nigerianerin von der linken Tischseite hatte einen tollen Text geschrieben, las ihn aber so vor, als hätte ihr jemand die Blutbahnen eingefroren.
Versteh’ ich nicht, sagte eine von der rechten hinterher.
Seid ihr einverstanden, dass ich das nochmal vortrage, fragte ich.
Alle bis auf eine sagten: ja.
Ich las das Ding, als wäre es ein Rap-Text; die jungen Frauen hingen mir an den Lippen. Wow, sagten sie hinterher zur Nigerianerin, klasse Text. Die war ganz knülle vor Stolz. Respekt, sagte ich. Du wirkst aber nicht wie eine Deutsche, sagte die Nigerianerin später.
Die anderen spitzten die Ohren: Echt? Du bist Deutsche? Nee. Echt. Hätten wir nie gedacht.
Bei der Tunesierin, die nie den Mund aufmachte, stellte sich heraus, die spricht fließend Englisch und langweilt sich einfach. In der Pause rauchten wir eine.
The girls in your class think you’re a bit slow, right? fragte ich. Just because you refuse to learn German.
Yes. Sie lächelte.
Aren’t you bothered? fragte ich. They underestimate you. You cope with that?
I couldn’t care less, erwiderte sie.
Ich ließ das so stehen. Eh klar, was daran nicht stimmte – wusste sie selbst.
How about some training? fragte ich. Just to keep your brain busy. Use me -I’m a trainer. I’ll speak english with you from now on. But try to do a bit of german writing, ‘kay?
‘kay.

So weit erstmal. Ich erzähle Ihnen das übrigens nicht, um mich wichtig zu machen, sondern weil es nicht soo viele Schnittstellen gibt zwischen dem Alltag dieser Schülerinnen und anderen Lebenswelten – und ich eine davon bin. (And I’m rather passionate about it ; )

14 Gedanken zu „Rascheleis

  1. Über die Scheißmichnixe und andere hat Elfriede Hammerl eben erst in einem Zeitungsartikel dort geschrieben. Eine giftige Form von Radikalisierung hat sich da über die Jahre unbemerkt eingeschlichen, ja wurde sogar gefördert. Die muss schnellstens wieder weg.

    • Das ist, lieber Kienspan, auch meine Ansicht – Frau Hammerl hat tatsächlich den Nagel auf dem Kopf getroffen und tief ins welke Fleisch unserer westlichen Zivilisation geschlagen. Nützen tun solche Erkenntnisse nicht, da sie ja der Wahrheit entsprechen. Deutschland ist (im Gegensatz zu Österreich? Kann ich nicht beurteilen.) noch zu gut organisiert und im durchaus besseren Sinne bürokratisch, um wirklich bereits mafiöse Zustände zu haben, doch ich fürchte, es wird bald schon noch nötiger sein, in “die Partei” zu gehen, um etwas werden zu können. Ausgerechnet die von Frau Hammerl angesprochenen Empfindsamen können naturgemäß ja (leider?) keine Seilschaften und Parteien begründen, sondern “nur” Freundschaften. Das alte Lied, neu gepfiffen. (So, nun muß ich wieder an meine im unvernetzten Raum schwebende Arbeit, auf daß sie gelinge und mir den LebensUnterHalt beschere.)

    • ich verbinde coolness mit contenance, also mit der fähigkeit, in einer wie auch immer krisenhaften situation nicht besonders schnell den kopf oder die nerven zu verlieren und ein chillen sollte dazu verhelfen ( zu einer möglichst jederzeit überlegt-sein-könnenden handlungsfähigkeit, je nach bedarf )
      sicherlich wird es auch leute geben, die mit chillen und coolness vielleicht gefühlsarmut und so etwas wie durchsetzungsfreudige unnahbarkeit verknüpfen, dennoch werde ich weiterhin die wörtchen coolness und chillen in meinem sprachgebrauch behalten.

      das mit dem ausgrenzen ist ein schwieriges kapitel, setzt es doch wohl ein einbeziehen können in einen schon definierten (gruppen)rahmen voraus.
      ich möchte nicht von einer empfindsamkeits-gruppe dominiert sein, so wenig wie ich zu einer gruppe von herrschwütigen gehören will.

      solidarität lässt sich für meine begriff aber nicht von so etwas wie gemeinschaftsgefühl ablösen, was widerum nah an gruppen-konstituierendem ist.

      was mir besonders lästig ist, ist das kapitel führung.
      bei guter führung wächst die wahrscheinlichkeit, eines tages selbst eine führungsposition einnehmen zu dürfen in einer hierarchisch strukturierten gemeinde.

      es reicht mir, wenn mich wohlgefasste gesetzestexte führen – mir einen verbindlichkeitsrahmen zu verfügung stellen, den mir kein mensch extra vortragen muss, den ich also in aller ruhe mir lesend zu gemüte führen kann.
      ich kann ja lesen.

      @ schlinkert

      was sie mit “die partei” meinen, ist mir schleierhaft.
      desweiteren wird vor allem in der industrie mit bestechungsgeldern auch in deutschland angeblich nicht unüppig operiert.

      was die empfindsamkeit angeht ist es mir nicht so ganz klar, ob da so etwas wie eine natürlichkeit ( naturveranlagung ) tatsächlich die empfindsamkeit in gänze erklären vermag.
      es gibt vielleicht menschen, die über eine lückenlose empfindsame gefühlskontinuität verfügen, ich selbst allerdings konnte trotz meiner starken tendenz zum melancholischen durchaus wehrhafte züge im lauf meines lebens entwickeln, wenn es deutlich angeraten schien.

    • @Dragan Mit Partei, wohlgemerkt in An- und Abführungszeichen, meine ich nicht die eine, sondern jedwede Interessensvertretung, in die man eintreten kann, aber an sich nicht müßte. Sobald es aber keine andere Möglichkeit mehr gibt, eine dem eigenen Leistungsvermögen entsprechende Position zu bekommen, als durch Beziehungen innerhalb einer “Partei”, wird dem Gemeinwesen in vielerlei Form Schaden zugefügt, nicht zuletzt dadurch, daß Vertrauen in die Leistungsgesellschaft, in der wir ja ohne Zweifel leben, (weiter) verloren geht. Die Vorstufe zu mafiösen Zuständen ist jedenfalls in Deutschland ganz sicher erreicht, schon allein dadurch, daß solche Nachrichten wie diese http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/niebels-personalpolitik-abstossend-11609600.html ein Schulterzucken auslösen und mehr nicht. So einer wie Niebel fällt ohnehin immer nach oben. Und was zuletzt die Empfindsamkeit angeht, so kann man diese tatsächlich völlig übertreiben, wie im 18. Jahrhundert geschehen, was dann die in der Realität notwendige Wehrhaftigkeit allerdings gefährdet – über die Grenze des (mir meiner Überzeugung nach) ethisch-moralisch Erlaubten würde ich (wie wohl viele andere) aber nicht gehen wollen, was natürlich ein ständiger Kampf mit sich selbst ist, da die Möglichkeiten der Vorteilsnutzung ja offensichtlich sind.

    • @Dragan Schwieriges Thema. Allgemein eine Aussage zu machen, inwieweit Gruppen “geführt” werden müssten, um sich als Gruppe konstituiert zu fühlen und Solidarität entstehen zu lassen, fiele mir schwer.
      Meine konkrete Beobachtung zum Ausgrenzen bezog sich auf eine Gruppe Heranwachsender, denen die Hormone noch kreuz und quer schießen. Die sind für ein klares Profil sehr zu gewinnen, einen entschiedenen Auftritt, eine wohltemperierte, aber deutliche Ansage. Viele von ihnen bewegen sich noch auf sehr unsicherem Terrain mit ihren Meinungen und greifen beherzt zu, wenn ihnen jemand eine trittfeste Fläche außerhalb ihres gewohnten Beurteilungsrahmens anbietet.
      Das hab’ ich heute versucht. Ist auch gelungen. Auf Coolness und Chillen musste trotzdem niemand verzichten.

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