Guten Morgen!
Was für ein seltsames Gefühl, gestern: dass die letzten Zeilen, die ich an diesem Tag schrieb, darin bestanden, hier auf TT jemandem den Mund zu verbieten. (Gibt’s diese Version überhaupt? Oder kann man jemandem nur das Maul verbieten, nicht aber den Mund?) Ob nun in der höflichen oder groben Version, es gefiel mir nicht. I c h gefiel mir nicht in dieser Rolle. (Ein Machtwort sprechen. Manchmal muss tu’ ich das auch in meinen Kursen. Und bin immer wieder erstaunt, wie erleichtert die meisten der jungen Leute sind, die es von mir hören: es wirkt auf mich oft, als wären sie durchaus nicht unzufrieden damit, dass ich sie aus einer Verhaltensrille schubse, damit etwas Neues passieren kann. Let the music play on, play on.)
Der Mensch, der sich Lobster (und vieles mehr) nennt, begleitet mich – und damit auch Sie, Leser:in – auf diesem Blog, seitdem ich es begonnen habe. Er hat mich oft beschimpft, manchmal bejubelt, nie einfach mal so gelassen, wie ich nun einmal bin. Er sieht etwas in mir und ärgert sich seit Jahren, dass ich seinen Projektionen nicht entspreche. Er schreibt immer nur nachts. Wenn der Alkohol ihn richtig am Wickel hat, steigert er sich auch gerne in einen Zorn auf andere hinein; er hat ein paar Lieblingsfeinde. Irgendwann einmal habe ich ihm geschrieben, dass er ein Tainted Talent sei. Wenn nicht er, wer dann? Ich mag verdrehte Leute. Schade, wenn sie so verdreht sind, dass ich sie nicht mehr verstehe, aber Kommunikation ist nu’ mal keine Rutschbahn ins Warmwasserbecken.
Momentan schreibe ich an einem Text, der in einer Publikation des Weltkulturen Museum erscheinen wird – eine Anthologie. Alle, die im Bereich “Bildung und Vermittlung” des Museums arbeiten, wirken daran mit. Und uns allen, während wir schreiben, stellt sich (vermute ich) die grundlegende Frage nach der eigenen Rolle und Verantwortung in diesem seltsamen, uralten, verflixt unzuverlässigen Energiefeld von Anziehung und Abstoßung, innerhalb dessen sich ein Voneinander-Lernen abspielt – ob nun zuhause, im Museum oder an irgendeinem anderen Ort.
Ich hab’ viel gelesen, bevor ich eine Idee für meinen eigenen Text bekam. Ich las (natürlich, und immer wieder) alles von Barry Stevens, der Gestalttherapeutin, die keine sein wollte. Ich las mehrere Essays der Kunstvermittlerin und Kuratorin Nora Sternfeld, dazu Jaques Rancières “Der unwissende Lehrmeister”, ich las das “Freedom writers diary” von Erin Gruwell und Jiddu Krishnamurtis “Einbruch in die Freiheit”. Ich las ein Interview mit der Neurologin Tania Singer, die sich mit dem Künstler Olafur Eliasson über den Unterschied zwischen Empathie und Mitgefühl unterhielt und einen Aufsatz von Wolf Singer mit neurobiologischen Anmerkungen zur Willensfreiheit. Ich las eine Festrede des Philosophen Peter Bieri, “Wie wäre es, gebildet zu sein?” und ein Handbuch zu den Grundlagen der Gestalttherapie. (Zugegeben nur halb.) Ich las “Schreiben als Weg” von Anna Platsch und den “Roman in Fragen” von Padgett Powell. Und – noch einmal – Daniel Pennacs Essay “Wie ein Roman”, in dem er die zehn unantastbaren Rechte des Lesers formuliert, auf die sich die Literaturwissenschaftlerin Karin Heyl in einer Rede zu “Kulturelle Bildungsangebote zwischen Emanzipation, Sozialarbeit und Kunstvermittlung” bezog und die ich, ihrem Gedankengang folgend, als Grundlage für meinen Text “Zehn Rechte eines Workshopteilnehmers” verwandte. Dann las ich noch einmal alles, was hier auf TT in meiner Rubrik “Mme TT’s Schreibworkshops und Seminare” versammelt ist, inklusive aller Kommentare. Jetzt bin ich bereit. Bisher ist ein Text-Wolpertinger entstanden – auf die gleiche unangestrengte, neugierige Weise, in der auch die Bilder an den Wänden meines Ateliers sich im Laufe der Zeit zu Kollagen fügen. Das Gute ist, ich habe freie Hand. Dieses Buch, die Anthologie, mein Mitwirken daran – niemand macht mir Vor-schriften für meinen Beitrag, niemand verbietet mir den Mund. Dabei -zumindest sieht es momentan so aus- wird das ein ziemlich eigenartiges Stück Text zum Thema. Dennoch hab’ ich den Anspruch, verstanden werden zu wollen und das, glaube ich, macht salopp gesagt den Unterschied zwischen verdreht und abgedreht aus.
So, genug. Dass heute ein verdammt unfreundlicher, viel zu dunkler Augusttag ist, bedarf keiner Erwähnung, Madame hat jedenfalls kalte Pfoten; die werden auch vom Tippen nicht warm. Zeit für einen Tee. Ich hoffe ja, Sie sind im Urlaub, irgendwo in der Sonne, lesen ein magisches Buch und wackeln mit den Zehen. Vielleicht bringt Ihnen in fünf Minuten jemand, der Sie liebt, einen Latte Macchiato, küsst Sie und lässt Sie dann wieder leise weiter vor sich hin träumen? Das jedenfalls wäre m e i n Wunschbild des Tages. Falls Sie ihn aber mit kühlen Fingerspitzen an irgendeiner Tastatur verbringen müssen: hiermit ein Lächeln von Schreibtisch zu Schreibtisch! Eben, kaum zu fassen, kam die Sonne raus. (Für ungefähr eine Minute. Seufz.)
Alles Gute Ihnen! Und küssen Sie jemanden, wenn Sie können!
Herzlich,
Mme TT
mir ist grad aufgefallen, dass ich von ihrer literaturliste nur die belletristik des herrn bieri kenne. immerhin;-)
Ich mag seine Belletristik: besonders der Nachtzug nach Lissabon. Und was die “gelehrten Bücher” angeblangt, wie meine Schwester sie immer nennt – lesen Sie doch einfach meinen Wolpertingertextsud, wenn er irgendwann durchgekocht ist: Da kommen sie alle vor, die besten Schlussfolgerungen und Zugänge aus diesen Lektüren, fix und fertig mit Chili und Sahnehäubchen! ; )
ich werd ihren text ganz sicher lesen, obwohl ich sonst gar nicht so sehr der typ für “abkürzungen”, sondern eher für umwege bin;-)
ps: perlmanns schweigen hat mir bisher am besten gefallen.
Oh, mein Text wird ganz bestimmt noch genug Umwege und Sackgassen bieten! *grins*
*küsst den Hasen und soll Sie zurückküssen* 🙂
Mit der Verständlichkeit als Wert hoppeln wir auf einem Rasen. Freilich denk’ ich oft auch an Ihre Texte, wenn ich mich mal traue, was sehr Privates bis Unverständliches rauszuhauen; heute sogar mit einer TT-like Anmerkung in Metaklammern:
“[Selbsterlaubnis: Auch mal nach außen evtl. Unverständliches aufschreiben dürfen.]”.
Thanx for continuous inspiration!
Herzlich, Ihr S.
Ich fand Ihre Texte noch niemalsjemals unverständlich, geschweige denn allzu privat. An meinen Maßstäben gemessen, doch die sind – wie gute Bergschuhe – natürlich inzwischen perfekt eingewandert und würden wohl bei niemandem außer mir mehr wie angegossen sitzen. ; )
Wie schön, das mit der Inspiration.
kann belle-tristik überhaupt bella ( abgesondert von bellum krieg ) sein ?
das schön- musikalische ( insofern es dies gibt ) goutiert man öfter ( wer liest zweimal ein buch im leben )
wie schnell werden bücher geschrieben ?
bestimmt nicht so schnell wie komponiert oder gemalt – irgendwie schneller :
daher mein persönlicher affront, welcher sie bislang kaum was anging.
es ist doch echt o.k.
hätte ich mir zeit gelassen, wäre da was womöglich noch ätzender abgegegangen oder nicht. ( ich weiss es doch nicht )
am ende stand da talents berauscht.
maybe tainted.
kann belletristik überhaupt ein ‘schön sein können’ beanspruchen ?
wie iinhaltlich will belletristik sein.
( und nicht laut und luise zb )
die individualistin_ der indiviensalat diese jene und noch andere ( schätze ich mal so salopp ) haben sicherlich nicht aus ‘just one fix’ ( welches ich erneut wiederholterweise höre, so etwas wie ein slayerzitat herausgehört ( welches ich nicht belegen kann, weil ich slayer nicht höre ) – fakt ist doch: die welt ist grösser als allgemein erkennbar.
warum also von allgemeinheit reden ?
antwort : weil sie alle GV haben wollen ( und selbst da gibt es anscheinend ausnahmen )
” entichung ” ist das allerletzte scheisswort
ich-verlust ist psychopathologisch, so wie sensorische d-privation.
autoprivation gell