Für die 10-Punkte-Form dieser Überlegungen habe ich mich von Daniel Pennac anregen lassen. Der französische Literaturwissenschaftler, Lehrer und Schriftsteller hat in „Wie ein Roman“ (Kiepenheuer & Witsch, 2004) ein Plädoyer für die „zehn unantastbaren Rechte des Lesers“ formuliert.
Mein eigener Entwurf stellt Überlegungen dazu an, wie sich Schreiben als kreativer Prozess auf Augenhöhe mit den jeweiligen Teilnehmer:innen anbieten ließe. Werde ihn zur Diskussion stellen. Eines weiß ich allerdings jetzt schon: Die Jugendlichen werden kritisch anmerken, dass zu viel Freiheit kontraproduktiv wäre. Da wette ich mit Ihnen um meinen Lieblingsbleistift.
1. Das Recht, nicht zu schreiben.
Oft erlebe ich, wie erleichtert Jugendliche sind, wenn ihnen jemand für einen klar umrissenen Zeitraum die Entscheidung abnimmt, ob nichtinstrumentalisiertes, d.h. freies Schreiben für sie „Sinn“ macht oder nicht. Texte stiften ja erfahrungsgemäß welchen, nachdem man einen geschrieben hat, und das ganz unabhängig vom jeweiligen sprachlichen Niveau. Trotzdem: Wer von einer in der Gruppe entstehenden Aufbruchsstimmung nicht angesteckt werden will, sollte an Land bleiben dürfen.
2. Das Recht, Trainingsphasen zu überspringen
Jede(r) kann sagen: Ich bin grad’ an was dran, will mich durch eine neue Übung jetzt nicht unterbrechen lassen, macht ohne mich weiter.
3. Das Recht auf Abbruch.
Wer Kreativität auf Augenhöhe anregen will, sollte Jugendlichen die Entscheidung zugestehen, ob sie ein begonnenes Schreibvorhaben zu Ende führen wollen oder nicht – unabhängig von eigenen Prägungen. „Das hast du angefangen, jetzt musst du es auch zu Ende machen“ hieß es in meiner Kindheit. Da ging es weder um die Qualität einer angefangenen Arbeit, noch um Sinnhaftigkeit, sondern um Selbstdisziplin, die gelernt werden sollte. Kein Zweifel: Selbstdisziplin ist wichtig. Aber ein Gespür dafür zu entwickeln, wie sich ein begonnener Text anfühlt, ob er Türen im Kopf aufmacht oder fürs eigene Empfinden steril bleibt, ist im Rahmen eines Schreibseminars mindestens ebenso wichtig. Die Entscheidung, trotzdem „dran“ zu bleiben oder einen neuen Anlauf zu starten, sollte man selbst treffen.
4. Das Recht, nachzufragen.
Manche brauchen vorab ganz viel Information, legen sich diese wie einen Hafersack um den Hals und preschen los. Andere bevorzugen es, Inhalte etappenweise angeboten zu bekommen. Wieder andere brauchen ewig, um überhaupt anzufangen oder schlafen vor lauter Widerwillen über das Fremdbestimmtwerden erst einmal ein.
Es gibt daher zur Orientierung Ansagen zu Anfangs- und Endpunkten bestimmter Sequenzen, zur Struktur und zum Ablauf eines Kurses, aber jede auch vermeintlich naive Nachfrage zu jedem Zeitpunkt eines Seminars ist vollkommen in Ordnung.
5. Das Recht, irgendwas zu schreiben.
„Irgendwas“ sei hier nicht gleichzusetzen mit „beliebig“. Es hat – unter anderem – mit Glück zu tun, ob eine Schreibanregung jenen, denen sie vorgelegt wird, „passt“ oder nicht. Dabei gibt es Anregungen, die fast alle inspirieren und andere, auf die nur ein gewisser Prozentsatz der Teilnehmer:innen einsteigen will. Für Jugendliche gilt meiner Erfahrung nach: Je kreativ/sportlich/humorvoller, desto kompatibler. Anregungen, die ins autobiographische Schreiben führen, werden häufig von einem Prozentsatz der Beteiligten abgewehrt. Die Scheu vor der Kontaktaufnahme und Konfrontation mit dem eigenen Intimen/Privaten ist legitim. Ebenso wie die Entscheidung, für solche Inhalte eine sprachliche Form zu suchen, die ihren Ernst verdeckt oder konterkariert.
6. Das Recht auf Authentizität versus Fiktionalisierung
Das Recht, sich beim Schreiben als Maßstab zu nehmen, über sich selbst den Zugang zu finden – ebenso wie das Recht zu abstrahieren, zu fiktionalisieren und in Inhalt und Form einen individuellen Abstand zur eigenen Lebensgeschichte herzustellen.
7. Das Recht, überall zu schreiben
Das bedarf eigentlich keiner Erklärung, denn was für die Profis gilt, gilt auch für Schreibseminare: Jede und jeder schreibt da, wo es sich am besten anfühlt. Sei das im Raum, irgendwo auf dem Boden an eine Wand gelehnt, im Bett oder am Ententeich, falls vorhanden. Wichtig ist, sich für die Vorleserunden wieder zusammenzufinden.
8. Das Recht, im Lauten zu schreiben. Oder im Bewegten.
Manche brauchen Musik, andere absolute Stille. Es gibt Leute, die fummeln ständig mit irgendeinem Gegenstand herum, können die Füße nicht stillhalten, brauchen alle Viertel- oder halbe Stunde irgendeine Art von Auslauf, sonst drehen sie am Rad. Auch hier wird nicht von oben geregelt. Notfalls muss man sich eben ein Plätzchen suchen, an dem man seine Hypermotorik ausleben kann, ohne dass andere gestört werden.
9. Das Recht, sich im eigenen oder fremden Text zu verlieren
Texte sind nicht immer zielführend. Obwohl die Frage „Worauf will ich eigentlich hinaus?“ für den Blick auf einen frisch geschriebenen Text wichtig ist, muss sie für den Schreibprozess selbst nicht unbedingt eine Rolle spielen. Ungewöhnliche Formulierungen und Gedankengänge, vertrackt-labyrinthisches, schräge Bezüge, überraschende Metaphern – das alles entsteht in vielen Fällen gerade dann, wenn sich die Schreibenden auf den Prozess als solchen einlassen. So sinnvoll es ist, sich einer Methode und einer Aufgabenstellung zu bedienen, um zur Textproduktion zu gelangen, so sinnvoll kann es auch sein, beides auszublenden, sobald man wirklich „drin“ ist. Für den berühmten roten Faden gibt es schließlich Überarbeitungsphasen.
10. Das Recht zu schweigen
Jede(r) darf vorlesen, sich den Reaktionen der anderen stellen, aber niemand muss. Manche Jugendliche fühlen sich nur dann frei, ihren inneren Impulsen zu folgen, wenn sie ganz sicher wissen, dass sie nicht vorlesen müssen. Ermutigung diesbezüglich ist wichtig, darauf zu beharren schlecht. Meistens stellt sich auch bei den Widerstrebenden nach einiger Zeit das Bedürfnis ein, den Text mit der Gruppe zu teilen.
diese freiheiten sollte man sich auch selbst nehmen, auch wenn man nur für sich allein schreibt.
schön!
Dankefürsschön!