Geborgenheit

Sonntag, 5. Juni 2016

Ein Gewitter zieht auf. Ich ruhe auf dem kleinen Sofa auf Ladybirds Holzterasse, rings um mich überbordende Vegetation, das Gelände (es mit dem Begriff „Garten“ zu verharmlosen, wäre nicht fair) ist seit meinem letzten Besuch regelrecht explodiert. Alle paar Minuten denke ich, was für ein Geschenk, auf ihm leben zu dürfen. Kann „man“ ein solches Privileg überhaupt verdienen, verdient haben? Klatschmohn und Frösche, die behäbig die Backen aufblasen, circa ab sechs Uhr morgens; die wecken eine Stadtfrau wie mich mühelos aus dem Schlummer, wenn’s die Amsel nicht längst getan hat. Von den anderen Vögeln, die ebenfalls früh auf den Beinen sind, ganz zu schweigen.
Ladybird hat eine Kohlmeise, eine besondere. Die hüpft ihr täglich auf den großen Frühstückstisch bis ganz nah an den Tellerrand, wippt auffordernd, fliegt dann zum Vogelhäuschen, das ein paar Meter weiter auf den Palisaden befestigt ist, die die Holzterrasse umsäumen. Reagiert die Angewippte nicht umgehend, kommt der Vogel zurück und wiederholt seine Aufforderung, bis Ladybird ihren Eierlöffel zur Seite legt. Sie geht dann zu der uralten, braungestrichenen Holzkiste direkt neben der Haustür, in der sie Sonnenblumenkerne, Meisenbällchen, Zeitungspapier, Saaten aller Art und auch Fischfutter aufbewahrt, öffnet den schweren Deckel, nimmt den verkratzten orangenen Plastikbecher, der da seit Anfang der sechziger Jahre drinliegt und schöpft mit ihm eine Ladung Futter aus dem Meiseneimer. Der Eimer ist noch nicht so alt, er kommt aus der Genossenschaft und fasst zehn Kilo. Auf dem Land ist das keine wirkliche Menge, zehn Kilo.
Ladybird ist zwanzig Jahre älter als ihr orangefarbener Becher.

Jedenfalls ist danach erstmal Ruhe und sie kann ihr Ei weiterlöffeln.
Vorhin ist sie zum Joggen in den Wald gezogen; ich muss gerade eine leise Beunruhigung abwehren. Mag’s nicht, wenn sie bei Gewitter unter Bäumen zugange ist.

– Warum bist du so schrecklich unruhig immer? fragte ich kürzlich den Sentinel.
– Mir fehlt Geborgenheit, erwiderte er.

(Ui. Jetzt fängt’s aber an zu pladdern. Und Ladybird immer noch nicht zurück.)

((Geborgenheit.))

Die Pflanzen fangen unterm warmen Regen betörend zu duften an, die Haustür steht sperrangelweit offen, von ferne ein Hund. Eine Hornisse zeigt unüberhörbar Interesse an einem breiten Spalt im Vordach, krabbelt hinein, sondiert die Lage. Letztes Jahr, erzählt Ladybird, hatte sie gleich zwei Hornissennester unterm Dach. Und die Biester sind laut. Wenn sich eines von ihnen in eines ihrer Zimmer verirrt –

Ah! Da kommt sie. Schiebt eben lächelnd ihr Rad den Hang hoch. Pitschnass.

– nähert sie sich sehr vorsichtig mit einem Glasgefäß, fängt das Tier und entlässt es ins Freie. Sie kümmert sich, spricht mit allem, was wächst und sich vermehrt, mit immer noch zunehmender Behutsamkeit.
Hat sie auch mit mir. Gesprochen. Bis ich achtzehn wurde führte sie auch ein Buch, in dem sich Beobachtungen, Kinder- und Pubertätszitate, Zettel, Briefe und Botschaften finden, wir haben gestern mal reingelesen. Was für Sprüche ich mit zweidrei Jahren rausgehauen habe, unglaublich. Wir haben diese Aufzeichnungen mit jenen über Semioticghosts vergleichen, die natürlich auch so ein Buch hat und ebenso verblüffende Sätze gesagt hat damals. Alles schön in Ladybirds typischer, ausgreifender Schrift notiert, die ich noch halbblind wiedererkennen würde. Sie kann auch das, was ich mir über das Schreiben auf TT erst bewusst aneignen musste: in Fragmenten schreiben, hingeworfenen Sätzen. Nix mit rechtschaffener Aufsatzkunst, einfach Beobachtung und assoziatives Gedankenspiel.
Wir haben beim Vorlesen andauernd lachen müssen. Manchmal auch aus Verlegenheit, gerade bei den Texten zu den pubertierenden Phasen. Und die Erkenntnis, dass ich mit zwei ausgesprochen rüpelhaft war, hat mich ziemlich geschockt. DU BLÖDES VIEH war meine Lieblingsbeschimpfung. Wo ich das herhatte? Mich hat todsicher niemand aus der Familie so angesprochen. Die Hunde aber vielleicht?
Heute morgen dann Semioticghosts auf ihrer zugigen britischen Insel angerufen, wegen Schnapszahlgeburtstag.

– Ich hab’ doch versprochen, dass ich dich einholen würde, lacht sie am Telefon.
– Ja, aber nur, weil ich seitdem nicht mehr älter geworden bin!

Happy birthday, sis.

4 Gedanken zu „Geborgenheit

  1. Wunderschön, die Haltung zu den Hornissen, welches von Städter:inne:n so verteufelte Tiere sind. Und manchmal bin ich ein wenig neidisch, weil da ein Familiensein ist, das ich selbst nicht kannte, nicht so jedenfalls: eines ohne Spuren. Heimkehren zu können – welch eine Gedanke!

    • Na, o h n e Spuren schafft’s wohl keine Familie durch die Welt.

      Die Gartenbibliothek, so klein sie ist, hätte übrigens auch einen Schreibplatz für stadtmüde Dichter. Besonders, wenn sie was für Hornissen übrig haben.
      Lächelt.

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