Geradezu kriminell sentimentale

Es braucht, las ich irgendwo, vier Wochen, bis eine neue, täglich vollzogene Handlung im Gehirn als Gewohnheit abgespeichert wird. Ob das Nichtvollziehen einer Handlung die gleiche Zeit braucht? Wie auch immer – es passt mir, diese Information für wahr zu halten. Denn genau so viel Zeit habe ich: jedes Jahr einmal, in Paris. Ich bin hier ganz für mich. Es ist keine touristische Unternehmung, nicht so, wie andere ihren Alltag hinter sich lassen; ich habe hier eine Selbstverständlichkeit, die ebenso von Routinen geprägt ist wie zuhause. Sie fühlen sich allerdings anders an. Und immer, noch in Frankfurt, nehme ich mir etwas vor für diese Zeit.

Im letzten Jahr musste ich „Fettberg“ überarbeiten – da wurden aus dem einen geplanten Monat zwei. Ich sah damals nicht viel außer „meinem“ Quartier, weil mich die Arbeit so in Beschlag hielt. Die richtigen Pariser:innen verlassen „ihr“ Quartier sowieso selten, nur die Touristen haben Hummeln im Hintern. Versteh’ ich auch. Aber ich bin hier schon von Kind auf immer wieder gewesen, bin zweisprachig aufgewachsen, die ersten Parties als Teenager hab’ ich in Paris gefeiert und natürlich auch meinen ersten Kuss hier … versucht (…?) So muss man es wohl sagen, denn ich wusste damals noch nichts vom Küssen und behielt die Zähne fest zusammen! Ich erinnere mich noch, wie der Junge hieß, der versuchte, sie auseinanderzukriegen. Die Anderen nannten ihn „l’arbre“, den „Baum“. Vielleicht, weil er gerne grün trug? Weiß ich nicht mehr. Aber an >>> „La boum“ erinnere ich mich! Ich war genau im richtigen Alter, als dieser Film anlief. Und wir drehten alle durch.
Es gab eine Party nach der anderen. Meine Cousine und mein Cousin, etwas älter als ich, nahmen mich auf ihren „Mobilettes“ dorthin mit; auf diesen knatternden Mopeds schlängelten wir uns komplett halsbrecherisch durch die Autoreihen. Erstaunlich, dass ich meine Arme und Beine noch habe.
Auf den Feten, die oft in der Banlieue, in den Außenbezirken der Stadt stattfanden, gab es die berühmten „Slow“-Runden. Wurde man von einem Jungen zu einer solchen aufgefordert, wusste man, dass man knutschen würde. Außerhalb dieser Runden tanzten alle getrennt, aber alle geierten auf die Slows. Die Jungs (es waren immer Jungs), die die Platten auflegten, hatten uns sozusagen in der Hand – sie bestimmten, wann wieder eine Runde lief. Es gab diesen einen Hit aus dem Film … „Dreams are my reality“ von … Moment, ich schau’ schnell nach … Richard Anderson. Kaum zu glauben, dass mir das eben wieder einfällt! Dieser Song wurde rauf- und runtergespielt in Paris, und gewiss auch überall in Frankreich. Moment … muss schnell mal googeln …
Höre ihn gerade zum ersten Mal wieder. Mon dieu. Was für ein gnadenloser Kitsch. Aber ich schwöre Ihnen, damals hielt ich das für das schönste Lied der Welt. Ich war zwölf. Wollen Sie ihn hören? Hier >>> ist er : )
Krass, oder?
In Deutschland war alles anders. Auf den Feten. Zumindest auf jenen, zu denen ich eingeladen war. Da gab’s ganz andere Musik, keine offiziellen Slows und die Teens mussten in Eigeninitiative zusehen, wie sie an ihre Küsse kamen – was bei d e r Musik, die da lief, verdammt unwahrscheinlich wurde. In Paris war es viel einfacher! Als Mädchen sah man sich den Jungen an, der einen aufforderte, stand daraufhin auf oder blieb sitzen, alles andere war klar. Wer aufstand, war fällig.

Chouette war das! Von solchen Ausdrücken hatte wir viele. Teensprache. Chouette hieß „grandios“, und wir benutzten es dauernd, weil so vieles grandios war. Ebenso wie „moche“. Moche heißt „mies“. Mit chouette und moche kam man prima durch als Teen in Frankreich. Schade, dass ich nicht weiß, was die heutigen Jugendlichen verwenden. Von „meinen“ in Frankfurt weiß ich’s – auch wenn sich diese Ausdrücke natürlich so schnell verändern, dass man kaum mitkommt als Erwachsene. Ich hatte >>> hier mal ein paar notiert, aber die sind längst überholt. Ich hab’ ein Büchlein, in das trage ich bei jedem Workshop die beliebtesten Worte meiner Schüler ein. Zum Schlapplachen manchmal, worauf die kommen. Beim letzten Seminar fühlten sich alle „tschau“. Ich fragte, was das hieße. Na, gechillt, sagten sie. „Gechillt?“, rief ich. „Ich komm’ euch gleich mit gechillt! Ihr sollt arbeiten und schwitzen!“ Sie lachten mich an. Ich freu’ mich schon wieder auf die Teens, denen ich in der Herbstsaison begegnen werde.

(Wissen Sie übrigens, was chouette wirklich heißt im Französischen? – „Eule“! : )

(Und hier noch ein neues Wort, ich hab’s gestern erst gelernt: “scotché”. So heißt der Tesafilm hier: Scotch. Gestern, im Restaurant, fragte ich meine Tischnachbarin nach der Musik, die gerade lief. “Mais, c’est ADELE!”, rief sie. “Elle m’a scotché du premier moment!”
Sie hat mich vom ersten Moment an an sich geklebt. In Bann gezogen, könnte man sagen. Hübsch, oder?)

Ah, ich wollte doch über etwas ganz anderes schreiben. Über die neuen Gewohnheiten, an denen ich werkle. Und warum ich so wenig von mir hören lasse, seitdem ich hier bin. Andererseits – wozu erklären? Wenn man lange genug abwartet, erklärt sich alles von selbst : )
Im Moment jedenfalls kommt mir die Vorstellung, hier wieder abzureisen, völlig widersinnig vor. Ich bin, im Kern, sehr parisienne. Ich gehöre hier hin.

Cordialement!

Mme TT

13 Gedanken zu „Geradezu kriminell sentimentale

  1. Als meine Schwester in dem richtigen Alter war, drehte sie auch durch bei diesem Film. Der lief im Fernsehen und wurde vom Videorekorder aufgezeichnet. Es gab nur zwei Filme, bei denen meine Schwester damals durchdrehen, dahinschmelzen und später sogar mitsprechen konnte: das waren Die Fete und Dirty Dancing.
    Nach Paris zu kommen, das “Quartier” nicht zu verlassen und darüber zu schreiben, hat schon etwas. Das ist wie mit der Antimaterie, von der auch viel mehr geschrieben wird als eigentlich zu sehen ist.

    • Naja, cherShhhhh, das 5. arrondissement ist ja soo klein nicht, da lässt sich’s schon aushalten! Und wenn man in einem dieser schrabbeligen Buchlädchen versackt, vergisst man eh, dass es ein Draußen gibt : )

  2. Les mobs, c’est chouette (J’te dis pas!) Salut Phyllis, très chère, on écrit Mobylette, avec un “y” (si je puis me permettre). Comme elles étaient bleues, on disait aussi “une bleue”, “ta bleue”. Moi je m’en fous, j’avais un “103” (Konkurrenz aus dem Hause Peugeot).

    “Scotché”, oui, scotché est un mot qui a changé de sens au fil des ans.
    Ursprünglich “geklebt”, von “scotch”, Tesa-Film, “du scotch” (de 3m).

    Ich bleibe am Bildschirm, am Fernsehen geklebt, weil die Sendung so toll ist (oder ich zu schwach bin, davon weg zu kommen, kann auch negativ sein).

    Dann, wie Sie schrieben: In Bann gezogen, allgemeiner gedacht.

    “Adèèèle, enfin, y’a quand même de quoi pour que tu sois scotché, non?”

    Voilà, ma petite leçon du Vendredi.

    Übrigens, bei mir war’s umgekehrt, mein erster Kuß war in Hamburg, ihr Name und ihre (damalige) Adresse kenne ich noch. Ihr habe ich meine erste Liebesbriefe geschrieben …
    Ach, wie süüüüß!

  3. Also mir kam “La boum” damals vor wie die Großstadtvariante vom Kleinstadtleben. Die Unterschiede waren jedenfalls nicht sehr groß. Im Nachhinein war der Film natürlich auch der Startschuß in diese fürchterlich unästhetischen 80er-Jahre, dem Allzeit-Tiefpunkt der menschlichen Kultur. Gut, daß wir das hinter uns haben!

    • Dass die 80er zumindest modisch ziemlich grottig waren, will ich nicht bestreiten, aber Sie und ich sind doch in dieser Zeit Teens gewesen! Ein Tiefpunkt der menschlichen Kultur können diese Jahre also doch nicht ganz gewesen sein! ; )

    • Wir und ein paar andere waren wohl Lichtblicke, aber zu retten haben wir die Kultur auch nicht vermocht. Immerhin aber haben wir die Zeit ohne allzu heftige psychische Beeinträchtigungen überstanden und können heute mit Stolz behaupten, von ganz unten gekommen zu sein 😉

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