10 Gedanken zu „Franz Kafka / Der Prozess

  1. Ganz passend, auch zeitlich, der folgende Romananfang:
    “Der Untersuchungsrichter Doktor Ernst Sebastian tötete die erst halb genossene Zigarre. Er pflegte während seiner Amtshandlungen nicht zu rauchen. Ein Verhör war noch anzustellen. Da die Uhr schon auf sechs ging und die Sonnenstrahlen immer schiefer den Stuhl des Verhörs trafen, der wie ein zusammengebrochener Mensch vor dem Schreibtisch hockte, wollte Sebastian sich beeilen.”

    Franz Werfel: “Der Abituriententag. Die Geschichte einer Jugendschuld.”
    Erste Buchausgabe: Berlin – Wien – Leipzig bei Paul Zsolnay, 1928

  2. Jetzt weiß ich es, was mich letztendlich davon abgehalten hat, zu Ihrer Rubrik beizutragen. Romananfänge erschienen mir immer wesentlich unschlüssiger zu sein als Romanenden, deshalb drehe ich den Spieß kurzerhand um:

    “Wie ein Hund’ sagte er, es war als sollte die Scham ihn überleben.”

    • Am Anfang steht eben etwas Beliebiges, eine einzige Voraussetzung (“Mein Vater war ein Kaufmann”, “Ich bin nicht Stiller”, “Edith liebt ihn. Hievon nachher mehr”), während das Ende eine einzige Folgerichtigkeit, eine Schlüssigkeit ist, zu der man sich hingelesen hat. Ich würde eine Rubrik mit Romanenden in jedem Fall boy- bzw. girlkottieren, weil das Ende so ganz allein eben aber auch nicht schlüssig ist. Logisch. Wollte ich nur mal gesagt haben.

    • @Schlinkert & Walhalladada zur Folgerichtigkeit. Das Leben ist so wenig schlüssig wie ein Romanende; bei beidem handelt es sich wenigstens insofern nicht um mathematische Gleichungen, als es prinzipiell unmöglich ist, sämtliche Variablen zu kennen. Insofern finde auch ich Walhalladadas Idee tatsächlich reizvoller als die der Romananfänge. Es ist nämlich, ebenfalls prinzipiell, unmöglich, von einem Ergebnis auf sämtliche Ursachen, schon gar auf die Ursache zu schließen. Das ist ähnlich der Frage, wer denn Schuld habe. Sehr richtig sagte gestern im Polizeiruf 110 der neue Hauptkommissar, es sei seine Aufgabe, Täter zu stellen; wer aber schuld sei, sei eine ganz andere.
      Umgekehrt können wir aber sehr wohl aus Ursachen Folgen erschließen, was unter anderem die Aufgabe eines Romanschriftstellers ist. Dann, nur dann, wenn das gelingt, sprechen wir von der Schlüssigkeit eines Textes. Eine Rubrik mit Romanenden holte nun aber das Leben in den “ausgelesenen” Roman zurück, da jedes Ende sogleich ein neuer Anfang würde, von dem aus, rückgefolgert, sich je nach Rezipient eine ganz andere Geschichte entspönne. Die zumal, da Zeit irreversibel ist, in eine ganz andere Richtung wiese: nämlich nach vorne.
      Vielleicht hat Frau Phyllis ja wirklich Lust auf diese neue Rubrik, ansonsten ich mit dem Gedanken spielte, sie nach den “Prägungen” für Die Dschungel zu beginnen. (Besonders reizvoll dabei vielleicht, wenn man die Roman da gar nicht benennte. Oder hier.)

    • Lieber Dottore Schein,

      darf ich da flugs in Ihre Kerbe schlagen? Für mich hatte der “erste Satz” etwas völlig Zufälliges und Sinnloses – schon unbehaglich Unliterarisches, weil die Aura und das Abenteuer eines Werkes nun von diesem einen Satz getragen werden soll wie ein Pappmaché-Orden.

      Trotz diesem Misstrauen war ich aber doch ein-zweimal kurz davor etwas beizutragen. Einmal habe war es ein Satz mitten aus dem Werk (Die Falschmünzer), glaube ich, den ich aber nicht abschickte, ein andermal stand der Satz schon drin (Tod des Vergil).

      Herzlich,
      Phorkyas

      PS. Darf ich, gerade wo hier “Kafka” gerufen wurde, etwas Werbung für Remizov machen? Dessen Erzählung “Emaliol” beginnt nämlich so:
      “Chlebnikow ist kein Politiker. Von Politik versteht Chlebnikow so viel wie ein Esel vom Singen. Und wenn sein Paßbild ins Album politischer Verbrecher geraten ist und in den Gendarmarie- und Polizeiverwaltungen der Städte Rußlands aufbewahrt wird, so ist daran nichts Verwunderliches, das hat schon alles seine Ordnung.
      Bis zum Urteilsspruch auf freien Fuß gesetzt, lebte Chlebnikow ein Jahr unbehelligt. Doch als das Urteil gefällt wurde, das für ihn Verbannung in ein nördliches Gouvernement bedeutete, nahm man ihn wieder fest.”

      Gratis noch die beiden letzten Sätze hinzu:
      “Am Michaelistag war der lange Weg zu Ende. Weiter ging der Transport nicht, von hier an flogen nur noch Vögel, trieb nur noch Eis.”

      PPS. Vielleicht könnte mir jemand erläutern was/wer Emaliol ist,.. vielleicht der böse Bruder von Odradek?

    • @ANH Da muß ich aber mal kurz und knapp einhaken, lieber ANH. Während ein Romananfang unmittelbar aus der Fülle der Möglichkeiten vom Autor gesetzt ist, dürfte ein Romanende wohl doch eher als durch den vorangegangenen und durchs Lesen belebten Text, die Textur, vermittelt sein, also fix, die spezielle Folge der gesetzten, behaupteten Ursachen. Ohne das lineare Lesen allerdings wäre ein Romanende natürlich auch unmittelbar, doch dieses Ende gegen die erzählte Geschichte und gegen die Absichten des Autors herauszureißen, fände ich doch ziemlich respektlos, selbst wenn es im Einzelfall Witz hätte. Allerdings ist dieser erzählte “Witz”, das Ende, das kein Ende ist, schon in der Welt durch James Joyce’ “Finnegans Wake”, wo das Ende des Romans buchstäblich wieder in den Anfang fließt, was allerdings dem Weiterfließen des Erzählten “nur” im Kopf des Lesers hinderlich ist, auch wenn das Weiterlesen wieder von Beginn an eine dann neue Geschichte aufscheinen läßt, so im Sinne einer am Ende dann doch verfehlten und an sich unmöglichen Wiederholung, wie sie Kierkegaard in seinem gleichnamigen Roman im Sinn hatte.

      Wie wär’s mit einer Rubrik des ersten vollständigen Satzes eines Romans auf Seite 24 (oder 64) der Originalausgabe? Fände ich reizvoller als ausgerechnet das Ende.

    • @ all – Anfänge und Enden Die Ursprungsidee zu dieser Rubrik war ja die Frage, ob ein erster Satz tatsächlich schon ein “magischer Haken” sein kann, der den Leser, die Leserin in den Roman hineinzuziehen vermag. Viele aber wirken unschlüssig oder zufällig, wie sich aus der Fülle der gesammelten Romananfänge mittlerweile ganz gut überprüfen lässt. Und ich vermute, würden wir eine Sammlung der letzten Sätze beginnen, würden wir zu ähnlichen Ergebnissen kommen: Dass ihnen das Abhacken vom Werk nicht sonderlich gut bekommt. Trotzdem finde ich ihn weiterhin interessant, diesen ersten Satz. Denn es gibt ja auch die ambitionierten, die verkorksten, die verweigernden und so weiter…

      (Lieber Alban, falls Sie sich der Sache mit den letzten Sätzen annehmen wollen, nur zu – TT ist mit den ersten ganz zufrieden!)

  3. legte gerade meine verteidigungsrede in mehreren abschnitten für melusine und farahdi käfig dort hinter und aus und vor und zurück dem prozessualen, als gefühllos hinreichend beschrieben ohne sexuelle reibung wahrscheinlich.

    ( und lu, joan )

    solange beieinander bleiben wollen, das ist es vielleicht, wie es gegenseitlich ganz offensichtlich nützt.

    • @Dragan Ich hab’ Ihrem eigenen Vorschlag entsprechend die drei diesem hier folgenden Posts gelöscht. Widerwillig. Denn eigentlich tät’ ich lieber verstehen, was Sie schreiben, als immer löschen zu sollen. Keine Ahnung, ob mein Unverständnis an Ihrem Versponnensein oder an meiner Begriffsstutzigkeit liegt – ich hoff’ mal, an ersterem.
      ; )

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