TTag, 16. September 2010. Sehr geehrter Paulus Böhmer.

Guten Morgen. Paulus Böhmer steigt eben in den Zug nach Hannover, um am Nachmittag den Hölty Preis entgegenzunehmen: die höchstdotierte Auszeichnung, die hierzulande für Lyrik vergeben wird. Ich. bewundere. sein. Werk. Vor einigen Jahren raffte ich mal meinen ganzen Mut, schrieb eine lange Geschichte über ihn. Eine Art Anverwandlung. Doch dann passierte etwas, das mir, seitdem ich am Computer arbeite, vielleicht zwei-, höchstens dreimal passiert ist: aus Versehen löschte ich den ganzen Text. Vielleicht besser so. Ein Engerling schreibt über einen Schmetterling: kann man vielleicht drauf verzichten.
Er malt auch, übrigens. Kollagen. Die sind mindestens ebenso irre wie seine Langgedichte. Der Ausschnitt unten ist Teil eines solchen, das sich locker über vierzig Seiten hinzieht. Die sprachliche Schwungmasse ist so gewaltig, dass man sich tief ins Schelf drücken müsste, um nicht weggespült zu werden, da lässt man sich lieber freiwillig mit fortschwemmen.
Wäre gern mitgefahren nach Hannover. Nur, Feierlichkeiten, während derer ständig jemand niest und schnaubt, sind inakzeptabel, nässende Menschen sollten zuhause bleiben.
Schön auch für den Verlag übrigens, der nicht groß ist: die druckfrische Publikation kriegt jetzt bestimmt eine Banderole oder sowas in Sachen Hölty.

Liebe Leser:innen, bin nicht besonders sprachmächtig heute, verzeihen Sie meine mageren Wortketten. Nebenan in Die Dschungel erfahren Sie mehr über den Dichter und seine Geschichte. Und falls Sie im nahenden Herbst mal Lust auf eine fuel injection haben – Böhmer. Man kann das kaufen. Wie erstaunlich, immer wieder: eine Innenwelt einfach kaufen zu können.

19:39
Lieber, geht mir in der Fieberdämmerung grad durch den Kopf, würde ich immer sagen wollen: “Ich war das” als: “Ich war das nicht.” Ja. Auch bei jenen Dingen, auf die ich nicht stolz bin. Ich möchte sie getan haben, lieber, als dass ich sie nicht getan haben würde. (Stimmt das jetzt so mit dem Konjunktiv??) Ich will mich auch lieber entschuldigen, vor mir selbst und anderen, für Dinge, die ich getan, als für jene, die ich versäumt habe.
Das ist jetzt ziemlich vage. Komme darauf zurück, wenn der Kopf entwattetvagt ist.

[…]
Auswalzend ergießen sich riesige Flutwellen
in die flachen Gewässer der Schelfe. Die Strömungen
platzen vor Energie. An den Küsten ballen sich die auf =
laufenden Fluten zum Tidenhub von vielen Metern Höhe, Springtiden
und Nipptiden lösen einander ab. Flossengroß jagt Flossenklein.
Wellen, geschmückt mit Ketten aus Götterabraum, Keltenslang,
fallen wie im Spiel übereinander her, verschlingen einander,
speien sich wieder aus, um ihre Taillen windet sich Neptun,
es ist, als schaue sich mein mörderisches Auge
selber an: Ist nur ein Spiel / schon lange her /
weiß keinen Anfang / weiß kein Ende mehr.
Wellen, Wellen trocknen
das unaufhörliche Geplapper Deiner Seele aus, Cherie:
Mein Lippschitz / mein Ohrentroff /
Mein Schlagaderfetzen / mein Blutfuchs
– vielleicht kommt so dereinst das Universum
zum Bewusstsein seiner selbst, Cherie. In Dir. In Dir.
[…]

(aus: “Am Meer”)


Paulus Böhmer
Am Meer. An Land. Bei mir.
Trilogie. ISBN 978-3-941126-06-0 * 148 Seiten
Bestellen bei
Verlag Peter Engstler

27 Gedanken zu „TTag, 16. September 2010. Sehr geehrter Paulus Böhmer.

  1. Liebe Frau Phyllis Sie schreiben da oben :

    “Ich war das” als: “Ich war das nicht.” Ja. Auch bei jenen Dingen, auf die ich nicht stolz bin. Ich möchte sie getan haben, lieber, als dass ich sie nicht getan haben würde.”

    Ich tu zum Beispiel keine Drogen anrühren, und nicht einmal zum Spass.
    Jetzt redet da öfter ein Herr Lobster von seinem Haschisch, und da frag ich mich schon oft wieso der sich dann eigentlich nicht einmal dafür entschuldigen kann dann für seine Sucht.
    Weil es doch geradezu leichtsinnig ist, seine Gesundheit für andere auf’s Spiel zu setzen und das womöglich fahrlässig auf die Kosten anderer.
    Jetzt meine ich damit nicht, dass der Herr nicht seine Drogen selbst aus eigener Tasche bezahlen kann, aber man denke nur einmal an seine Angehörigen, vor allem auch an die Verwandtschaft.
    Was solchen Leuten eigentlich zugemutet wird, welche Tragödien sich durch solche Süchte hervorgerufen sich in unseren Familien tagtäglich abspielen.
    Also das muss man doch noch frei sagen dürfen, was für ein Skandal das eigentlich ist wenn sich junge Leute ständig zudröhnen müssen und am Ende gar nicht mehr so recht wissen, wer sie eigentlich sind.
    Aber jetzt mein ich, hab ich Sie vielleicht nicht richtig verstanden und Sie meinen, dass es
    nicht um den Konsum geht, sondern um das tätige Vertreiben illegaler Drogen, das Handeln.
    Ansonsten gefällt mir vei Ihr blog.

    • nana, herr globus, wer wird denn gleich mit der türe in’s haus fallen wollen.
      bleiben wir mal sachlich.
      weder bin ich jung, noch süchtig.
      wieso wollen sie frau kiehl hier in eine zwickmahlende situation drängen, gerade nämlich weil das netz – wie auch unsere gesellschaft das recht der meinungsfreiheit geniesst, auf welches sie sich ja ebenfalls gerne stützen wollen.
      also unterlassen sie bitte demnächst diesen unfug, mich hier vor aller augen zu verunglimpfen oder frau kiehl dazu herauszufordern, partei zu ergreifen oder plädoyers zu veranstalten.

      danke.

    • Sie glauben wohl, Sie besässen ein Mandat für einen unkontrollierten Drogenmissbrauch, Herr Lobster.
      Und wie Sie sich da immer echauffieren auf Ihre enthemmte Weise dann.
      Ich möcht ja nicht damit zum Ausdruck gebracht haben, dass Sie für mich ein zerbrochener
      Mensch wären, der sicherlich mein Mitleid dann hat auch wenn er vielleicht der Meinung ist,
      er wäre noch kein Süchtiger, aber machen wir uns doch nichts vor.
      Mehr sage ich jetzt dazu nicht mehr, wenn Sie nichts dagegen haben.

      Entschuldigen Sie bitte vielmals, liebe verehrte Frau Kiehl.

    • @Herr Globus Ich bin etwas verwirrt. Doch das mag am Fieber liegen. Worauf wollen Sie hinaus? Hier auf TT verkehren Konsumenten aller Art. Es ist doch recht schwer heutzutage, kein Konsument von irgendetwas zu sein, nicht wahr? Ich wage zu behaupten, dass viele dieser konsumierten Güter suchterregend sind, auf die ein- oder andere Weise. Wie auch das Leben schlechthin. So schön es auch ist. Wenn Sie gestatten. Man stirbt daran. Mit etwas Glück war man vorher nach etwas süchtig, das eher lebendig als tot macht. Verzeihen Sie meine drastische Formulierung. Muss am Fieber liegen.

      p.s. Kann man Sie anknipsen?

    • Jetzt versteh vei gar nichts mehr, also wenn sie mich verstehen, Frau Kiehl, dann war es doch gerade die herausstreichende Art des Herrn Lobster, seinen Drogenkonsum publik zu machen und damit geradezu verantwortungslos seine aufgekündigte Integrität an die derzeitige Rechtsprechung und Gesetzeslage ohne jedwedes Schamgefühl zu dokumentieren.
      Freilich ist es hier jedermann gestattet seine Meinung auch im Internet kund zu tun und das soll ja auch so bleiben, dass wir uns da nicht missverstehen, aber bei allem Respekt auch vor dem Süchtigen selbst bleiben doch noch Bedenken, ob das nicht eine magnetische Wirkung vor allem dann auf unsere Jugend hier haben kann.
      Also da würde ich mich auf’s entschiedenste dagegen verwehren, hier Tür und Angel auf zu machen um so einer geradezu propagandistischen Methode freien Lauf zu lassen.

    • @lobster Die Gefahr der Zwickmühle ist nicht gegeben. Dazu sind die Kissen zu weich, mein Lager zu kommod. Man hat Ihren Namen in komprommitierendem Zusammenhang genannt: ich ging darauf nicht ein.

    • @Herr Globus Tainted Talents ist ein drogenfreier Raum. Wer hier zum Konsum jedweder Drogen aufriefe, flöge stante pede raus. Mit der Bitte, das an die gefährdeten Jugendlichen, von denen Sie sprechen, unumwunden weiterzuleiten.

      Sie haben meine Frage nicht beantwortet.

  2. @19:39 Seit vergangenem Wochenende beschäftigt mich diese spezielle Frage sehr intensiv. Auslöser war eine bildlich festgehaltene Szene, die mir Tränenströme nicht entlockte, sondern gewaltsam entriss (ohne eine Vertiefung zu beabsichtigen vermute ich mit einigem Grund, dass Sie das Bild kennen). Mittlerweile aber nähere ich mich möglicherweise meiner mir angemessenen Antwort: “Ich war s o, deshalb konnte ich nicht a n d e r s sein. Es lag damals nicht in meiner Gestaltungsmöglichkeit.”

    Im “DAS” und nicht “JENES” sein liegt für mich eine gewaltige Unterschiedlichkeit der daraus erwachsenen Möglichkeiten begründet. Sie j e t z t zu nutzen, die Möglichkeiten, sie l e r n e n zu nutzen: Möglichkeiten, die genau besehen vielleicht niemand so recht haben wollen würde (bin mir jetzt auch unsicher beim Konjunktiv). Und gerade deshalb tragen sie so enormes Potenzial in sich, Besonderheit. Und gerade deshalb ist es gut.

    Sag’ ich mal so flockig.
    Vorläufig und vage.
    Wie Alles.
    Immer.

  3. Interessant aber. Daß hier keiner was >>>> zu Paulus Böhmer sagt, der doch das eigentliche Thema Ihres Beitrags gewesen. (Ich lege den Link in der sicheren Annahme, daß Sie dies nicht als aufdringliches mich-Vorschieben empfinden). Auch er aber, das ist eine feine Formklammer zu BTM, macht uns berauscht und fast gefahrlos süchtig. In keinem Fall verdumpft er den Kopf.

    • wollen sie jetzt frau kiehl beleidigen, herr herbst ?
      indem sie die qualität ihres obigen artikels auf einen kommentarstrang mitunter heruntergedimmt wissen wollen ?
      unter btm läuft übrigens auch kokain und das – was mittlerweile selbst schon kindern bekannt sein dürfte – ist eine hochleistungsdroge.
      manchmal kommt es uns so vor, als ob ihnen die fiktionalität bisweilen gar arg ein gutes gefühl für präzision stiehlt.

      was uns noch interessiert wäre :

      sind sie mit alfred harth so gut schon bekannt, dass sie auf seine drei netten kommentare heute in der dschungel nur ein paar trockene sätzchen antworten ?

      verzeihen sie bitte unser korrigierendes eingreifen in richtung btm, werte frau kiehl.

    • @brainpolice trainee. Ich habe den Artikel nicht heruntergedimmt; das mag Ihnen freilich so vorkokaint sein. Deshalb wohl auch verwechseln Sie Hochleistungsdroge mit etwas, das vorgeblich stehle. Selbstverständlich “läuft” auch Kokain unter BTM, s o f e r n es denn läuft. An keiner anderen Droge klebt so viel Blut. Das wiederum ist Kindern eher n i c h t bekannt, da es oft seine erwachsenen Konsumenten schon leugnen.

      Ihre Frage selbst allerdings, die die Frage meines Kommentars abermals unterstreicht, gehört in Die Dschungel, nicht hierhin; also stellen Sie sie auch dort.

      (Wieso übrigens “mitunter”?)

    • @anh Drogen wie Paulus Böhmers Dichtung meinte ich, als ich schrieb, man möge sich doch welche suchen, die eher lebendig als tot machen.

      Ihre Frage, warum sich außer Ihnen niemand in den Kommentaren auf ihn, Böhmer, bezieht?
      Hm.
      Vielleicht reicht der Texthappen nicht aus, einen Eindruck zu gewinnen?
      Oder die Leser:innen von TT sind dichtungsresistent? Oder haben sich alle schon unter Ihrem eigenen Böhmer-Beitrag ausgetobt?

      Wie dem auch sei: Für TT gibt es keinen Schein. Deswegen kann, muss aber nicht jeder am Thema bleiben.

    • @ brainpolice trainee Ihre ritterliche Haltung entzückt mich. Und, dass Sie von sich selbst im pluralis majestatis sprechen. (oder sind Sie gar mehrere trainees gebündelt unter einem Pseudonym?)

      Was btm anbelangt, davon hab’ ich kaum Ahnung. Und solange Sie und Herr Herbst sich so vergnüglich dazu zoffen, sehe ich auch keinen Grund, mich diesbezüglich auf den Boden von Tatsachen zu begeben: Zoff funktioniert ja bekanntermaßen am besten ohne stichhaltige Argumente ; )

    • gute frage, danke.

      ein lapsus. wir meinten ‘unter umständen’.

      als in den staaten seinerzeit die prohibition herrschte, gab es deshalb auch jede menge tote ( vor allem gangster ).
      trotzdem konsumierten die leute alkohol.

      wieso das verwenden von kokain gesetzlich scharf verfolgt wird ?

      who does it really know.
      mal abgesehen dass koki eine partydroge ist, ist sie eben auch leistungssteigernd.
      deshalb ist diese droge bei werktätigen mit einem surplus an leistungsbereitschaft ja auch so beliebt.

    • werte frau kiehl wir trainees sind dazu angehalten, streng im sinne einer behörde zu argumentieren.
      wir sammeln dennoch erfahrung ausschliesslich aus dem leben heraus, unterliegen somit keiner idee ( bis auf der idee ‘brainpolice’ an sich ) und unterstehen keiner staatlichen aufsicht.
      wer sich uns anschliesst, kann auch dünnpfiff quatschen.
      unser motto ist :
      everything U want to do is allright.
      wir vertrauen sozusagen auf eine uns innewohnende gute gedankliche kraft.
      wir sind also nicht der meinung wir wären qua menschsein grundsätzlich schlecht.

      in literarischen kreisen nennt man so etwas vielleicht beckmessertum.
      ein vielleicht allzu abfällig gebrauchtes wörtchen.

    • @ brainpolice trainee “kleinlich pedantische Kritik”, lese ich eben: musste beckmessertum kurz nachschlagen.
      Der Ansatz, mit Verlaub, untergräbt aber Ihren vorher propagierten laissez faire Ansatz.
      Was denn nu?
      Oder sind sich die trainees da nicht einig?

    • es bleibt jedem selbst überlassen, inwieweit er klarstellende keile in eventuelle lassez faire ansätze anderer schlagen will.
      ( oder ob jemand von uns sich trainee, officer, commander oder ähnliches nennt )
      aufgrund der von mir nun evozierten beckmesserisierten überreiztheit ersuche ich sie hiermit ergebenst um eine entlassung aus diesem threadframework.

      diese unsere selbstwidersprüchlichkeit ist in der tat höchstproblematisch.

    • @ANH Soweit es mich betrifft, räume ich mein mangelndes Wissen zur Person “Paulus Böhmer” ein, ich kenne ihn nicht. Deshalb kann ich über diesen Umstand hinaus nichts über ihn sagen.

      Doch habe ich hier die Gelegenheit, die Künstlerin und Autorin (vielleicht sogar ein Stück die Person) “Phyllis Kiehl” kennenzulernen – gleichzeitig dabei aber auch mir selbst näher zu kommen. Das ist eine Erfahrung, die mir unschätzbar wertvoll ist. Empfinden zu können: “In ihrem Schaffen und Einlassen bin ich über mich mit ihr in Berührung gekommen”, hat eine magische Wirksamkeit, deren Ausmaß sich hier nicht angemessen beschreiben ließe.

      So komme ich aber wieder zurück auf das leitende Thema des Beitrags: die Ehrung Böhmers. Die Weise, wie Frau Kiehl ihre Hinwendung zu Böhmers Werk ausdrückt, ist in mir ausgesprochen wirksam. Die W e i s e, nicht der Umstand. Sie als Mittlerin zu erleben hat eine eigene Qualität, die ich sehr genieße, weil es einer warmen und einladenden Führung in noch fremde Innenwelten gleichkommt. Ja, so seh’ ich das.

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