TTag, 5. August 2010. Ungeschminkt.

In den kommenden Stunden, geschätzte Gäste dieses Weblogs, werde ich ein brandheißes Dokument verfassen. (Ich bin noch müde, doch das ist Absicht. Um diese Zeit sitzt mein Identitätskorsett sehr locker – das ist gut für Überraschungen)
Ich werde mir schreiben, wie ich mich und mein Handeln wahrnehme. Ohne danach zu schielen, gute Sätze zu formulieren. Ohne diesen routinierten Zauberstab, mit dem ich sonst über meine Texte fahre, um sie weicher zu machen, fairer, und gültiger. Ich werde schreiben, wie es ist.
Ich habe das vor zehn Jahren schon einmal gemacht: der Brief liegt seitdem in einem verschlossenen Couvert in meinem Tagebuchordner, und wenn ich diesen heutigen geschrieben und zugeklebt habe, werde ich den alten öffnen. Vielleicht aber auch nicht. Denn die ungeschminkte Wahrheit ist keine Freundin. Freundinnen haben immer ein gutes Wort übrig. Oder ein relativierendes – und das ist auch gut so. (Blöd, dass man das eigentlich nicht mehr benutzen kann, seit Herr Wowi es sich an die Stirn gepappt hat)
Sie mögen jetzt denken, das sei doch eigentlich ein leichtes, so ein offener Brief an sich selbst. Tja – dann versuchen Sie es doch mal…
Wenn ich mich recht erinnere, wird dieses Dokument sauschwer zu schreiben sein und gleichzeitig höchst befreiend. Es geht nicht um Literatur und nicht um Güte, sondern um das, was übrig bleibt, wenn man alle beschönigenden Sätze weglässt, mit denen man immer versucht, die Dinge im “richtigen Licht” zu sehen und zu formulieren. Stattdessen: wertfrei. Sowas kann man nicht oft machen, aber alle zehn Jahre ist okay.

So ein Brief ist ein Behälter. Man kann alles reinpacken und dann hinter sich lassen. Vielleicht hat Beichten einen ähnlichen Effekt – keine Ahnung, ich bin evangelisch. Aber Beichten hat ja auch was mit vermeintlichen Verfehlungen zu tun, und darum geht’s mir gar nicht. Nur um Vergegenwärtigung. Und um Geheimnisse: ich schreibe mir alle meine Geheimnisse. Die Bergführer der Moral bleiben unten, ich gehe alleine rauf. Mal sehen, ob ich fit genug bin. Ach was, natürlich bin ich fit genug, und das ist auch schon wieder eine Bewertung… merken Sie, wie schwer es ist, die Dinger hinter sich zu lassen, und sei’s nur für ein paar Stunden?
Wenn ich fertig bin heute, suche ich nach einem schönen Umschlag und steck’ den Brief in den Ordner zu dem anderen. Eben merke ich, ich werde den, den ich mir vor zehn Jahren schrieb, heute nicht öffnen. Warum auch? Vielleicht, wenn ich eine weise alte Dame bin.
Wie viele werden es bis dahin werden? Vier? Oder fünf? Ich werde eine Brille haben. Und Locken wahrscheinlich. Meine Mutter ist jetzt vierundsiebzig und hat seit einem Jahr Locken, vorher hatte sie immer ganz glattes Haar. Sie freut sich immer sehr, wenn sie in den Spiegel sieht, denn die kamen einfach so, ohne Chemie, und sie hat sich immer Locken gewünscht. Ist das nicht süß?
So, Phyllis. Los jetzt.

14:25
“Baby Queen” steht auf der Melone. Und “seedless”. In Kombination mit dem zweiten Geschenk durchaus pikant. Ich darf will Ihnen wirklich nicht vorenthalten, was mir der Gefährte heute zum Geburtstag überreichte.
Die Melone ist übrigens keine Premiere – das andere indes schon.
Hm.
Die Sinnhaftigkeit mancher Geschenke offenbart sich erst in der Anwendung. Und dabei hab’ ich meinen Brief noch nicht fertig ; )

(FOTO ZENSIERT)

23 Gedanken zu „TTag, 5. August 2010. Ungeschminkt.

  1. Glückwunsch Alles Liebe wünsche ich Ihnen, liebe Phyllis, für das kommende/die kommenden Jahre, einen schönen Tag heute, trotz oder gerade wegen des Schreibens dieses Briefes (Ich finde das eine großartige Idee). In meine Wünsche schließe ich die Locken sofort mit ein. (Und glaube, dass es kein Zufall ist, wenn eine kluge und schöne Frau wie Sie an einem solchen Tag an die Mutter denkt: die Frauenlinie.)

    2 “virtuelle” Geschenke für Sie, eins fröhlich, eins ernster; aber beide optimistisch:

    NONSENSE

    Good, reader, if you e´er have seen
    When Phoebus hastens to his pillow,
    The mermaids, with their tresses green,
    Dancing on western billow;
    If you have seen at twighlight dim,
    When the lone spirit´s vesper hymn
    Floats wild along the winding shore.
    If you have see throught mist of eve
    The fairy train their ringlets weave,
    Glancing along the spangled green ;-
    If you have seen all this, and more,
    God bless you! What a deal you´ve seen!

    (Thomas Moore)

    PATERNOSTER

    Ich stehe an einem gewaltigen Felsen im Meer bei Paternoster
    das Meer schleudert Streifen von hellgrünem Schaum
    in die Luft
    furchtlos
    starre ich jeder gottverdammten Welle
    ins Innere als sie bricht
    erbebt der Felsen unter meinen Sohlen
    die Muskeln meiner Oberschenkel treten vor
    mein Becken stößt die antrainierte ergebene Neigung hinaus
    was das Zeug hält! Ich bin Fels ich bin Stein ich bin Düne
    ganz deutlich zischeln meine Titten einen Kupferkessel-Ton
    meine Hände umklammern Moordbaai und Bekbaai
    meine Arme fahren ekstatisch hoch über den Kopf
    ich bin
    ich bin
    Gott hört mich
    eine verflucht freie Frau

    (Antjie Krog)

  2. Aber ist es nicht immer anders? Ich kann in einem Moment glühender Verfechter des Guten und Schönen sein, während ich im nächsten alles Umtriebige für schöner und wahrer halte. Und manchmal kann ich nicht mal einen Unterschied erblicken. Seid Freud geht man immer davon aus, man lebe unter ständiger Deckung und Deckelung und steht auf so einer angelassenen Herdplatte und zischt und brodelt vor sich hin. Und selbst wenn, immer noch besser als ständig kalte Küche. Dann bin ich eben kontingent. Mir gehts da wie Grobi, der sich abhetzt zwischen hier und da, wenn er da ist, ist er immer schon hier, und wenn er hier ist, immer schon da. Wirklichkeitssinn und Möglichkeitssinn, man weiß gar nicht, was was bedingt, und was mehr sei.

  3. ganz schlicht auch von mir alles Liebe zu Ihrem besonderen Tag.
    (davon hat der Mensch gar nicht so viele, keine zwei Handvoll nämlich)

  4. Man möchte natürlich gleich ein Märchen so beginnen lassen: Es waren einmal eine kernlose Melone und ein mannloser Schwanz…
    Es gibt aber doch mittlerweile Designpreisdildos, die auch zum Freischwinger passen, was sich Mies van der Rohe auch nicht hätte träumen lassen, fragt sich nur, wer da wen beeinflusst hat.

    • Schön, dass Sie sich drauf beziehen, das Foto meine ich – so bleibt es in Worten erhalten : )
      Denn plötzlich überfiel mich ein Irritiertsein vor dem Plastikding da mitten auf TT, und ich nahm die Abbildung weg. Um die Melone ist’s mir ein bißchen leid, zugegeben.

      (p.s. Designdildos sind absurd. Wenn schon, dann ein richtiger Schwanz.)

    • Au Contraire, also ich nähme bei allem, wo kein Mann dranhinge, eher das multifunktionale Dings ohne Lookalike-Ansinnen, was auch zum Freischwinger passt, gut, kantig sollte es nicht sein, aber sonst.

    • ihr seid halt kleine performance girls was sonst wie z.b. meine freundin melusine es ist
      wie so ne badewanne voller eiswürfelchen mit eine einem verschmitztem lächeln versehen.
      naha. babies.
      sojo.
      to yeerr do nnuts yet, por favor,

    • ich denke gerade mal über den ausdruck selbstwahrnehmung nach.
      wie ich mich überhaupt selbst wahrnehmen kann.
      gut da gibt es den spiegel – die optische form der selbstwahrnehmung.
      ich schaue in den spiegel und sehe meine physis.
      ich sehe dann schwarze haare, braungrüne augen, ne angedeutete stupsnase usw.
      kann ich tatsächlich schon etwas damit anfangen mit dieser visuellen selbstwahrnehmung ?
      ich habe keine originalerfahrung mit wahrnehmung.
      ich werde mich wahrscheinlich schon als physische differenzqualität zu meinetwegen dunkelblonden haaren, blaugrauen augen und ner ausgeprägten hakennase wahrnehmen.
      vermutlich.
      nun das visuelle beispiel ist ja wohl das simpelste, insofern man einen spiegel benutzt.
      ( welchen man aber zur wahrnehmung des gesichtes benötigt )
      ich kann auch meine hände betrachten und brauche dazu nur meine augen und meine hände.
      meine hände könnten mir verraten, dass sie keine auslaugende, hornäute bildende arbeit hinter sich haben und damit ebenfalls eine differenz aufzeigen, wie grob auch immer.
      für was stehen sie selbst ?
      sehe ich es ihnen tatsächlich an, dass sie viel zeit mit dem bewegen von tasten verbrachten ?
      ich weiss es.
      ich habe dies und das mit ihnen getan und anderes nicht und deshalb sehen sie so aus ( abgesehen von der genetischen disponiertheit ) und nicht anders.
      was aber mit meiner persönlichkeit ?
      wie schaffe ich es meine persönlichkeit selbst wahrzunehmen ohne die wahrnehmung anderer ?
      vielleicht aus der konfigurativen abgegrenztheit zu anderen persönlichkeitskonglomeraten
      über charaktereigenschaften, welche sicherlich angeeignet sind ( adaptiert, imitiert ).
      imgrunde fragte ich mich eigentlich dies :
      ich stelle fest, dass ein teil meiner freund:innen mich überhöhen ( für meine begriffe zu sehr ) und andere mich verkleinern ( für meine begriffe zu sehr ).
      was soll mir mein selbstwahrnehmen wollendes ich daraus verraten ?
      stelle ich mich anderen so zerrissen dar ( zwischen selbstüberhöhung und selbstverkleinerung ) und bekomme das von unterschiedlichen menschen dergestalt gespiegelt, oder findet über die zerrissenheit der aussenwahrnehmung manipulatives statt, etwas, was mich entweder verkleinern will ( weil ich zu gross bin ) oder etwas was mich vergrössern will ( weil ich zu klein rüberkomme ) ?
      ich habe am liebsten beziehungen, die sich auf faktizitäten stützen, welche mich von solchen fragen freisetzen, welche sich handlungen verschreiben und nicht solchen für mich letztlich eschatologischen fragen.
      ich könnte so einen brief nie schreiben, es sei denn ich schreibe nur was ich für mich projektieren wollte unter den voraussetzungen meiner möglichkeiten.
      hm – soweit denke ich gerade noch einmal nach wenn ich lese, wertfrei und ohne kritiklosigkeit.

    • … sorry – sollte da am ende des kommentars stehen : wertfrei und ohne (selbst)kritik.

      ich glaube übrigens letztlich nicht, dass es etwas wertfreies gibt.
      nicht mal handlungen sind wertfrei, weil handlungen niemals zweckfrei sind.
      auch der gröbste altruismus kann als zweck aufgefasst werden, gar als selbstzweck.
      ( dann aber eher als psychologischer mechanismus )
      selbst wenn man anhand einer vielleicht mehrwertigen logik einer handlung mehrere wirklich unterschiedliche ursachen zuschreibt gerät man dadurch nicht in einen wertfreien raum.
      man gerät höchstwahrscheinlich in einen mehrwertigen raum.
      würde ich mal so sagen und stelle dabei fest, dass theorie meins zur zeit echt nicht ist.

    • Leonardo, ich bin ziemlich verduzzi angesichts Ihrer Ausführungen. Und stelle fest, ich kann heute nicht eine einzige Ihrer Fragen beantworten, weder im Hinblick auf Ihre Person (was mir auch reichlich schwer fiele, da ich Sie nicht kenne), noch auf meine eigene bezogen.
      Sinn machen sie aber, Ihre Fragen, dennoch. Besonders diese: “wie schaffe ich es meine persönlichkeit selbst wahrzunehmen ohne die wahrnehmung anderer ?”
      Ich hab immer mal wieder festgestellt, es gibt Leute, die für ihr Ich-Verständnis fast gänzlich auf Re-Aktionen von anderen angewiesen sind, und andere, bei denen das nicht so zutrifft. Das ist aber keine Antwort. Die muss ich Ihnen schuldig bleiben: das Denken fällt mir heute so schwer.

    • mir selbst ist es irgendwie versperrt diese “selbsts” in eine geschlossene kausalitätsvernetzheit auch qua definierungen zu bekommen.
      also selbstwahrnehmung / selbstkritik / selbstverantwortung / selbstbewusstsein.
      selbstverantwortung bekomm ich gefühlsmässig noch so hin – also selbständig entscheidungen treffen zu können, ganz egal aus welchen wiederum adaptierten entscheidungsmöglichkeiten sich dies verantwortungsvolle entscheiden speist.
      und zu wertfrei fällt mir nur so etwas wie positivismus ein.
      hat mich nie interessiert, also kenn ich mich damit auch nicht aus.

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