Komisch, wie viele Leute möglichst schnell ins vertrauliche Du gelangen wollen: Als ob erst dann handfestes Miteinander entstünde, wenn die Barriere der höflichen Distanz überwunden ist. Wenige scheinen zu begreifen, dass wir Deutschen (vielleicht in Nachahmung amerikanischer und britischer Sitten, ohne deren Sprachgeschichte zu haben) dabei sind, uns auch noch der letzten Umgangformen zu entledigen, die Nuancierung und Spiel ermöglichen.
Wir haben für erste Begegnungen das formelle Sie, das, sobald gegenseitige Sympathie erkennbar wird, ratzfatz ins Du umgewandelt wird. Manchmal geht das innerhalb von Minuten. (Im Internet gibt es schon gar kein „Sie“ mehr)
Anders bei den Franzosen: Dort (aber vor allem im Orient, wie ich höre), gibt es Situationen, in denen sogar die Eltern gesiezt werden. Auch die Kombination von Vorname und „Sie“ ist noch geläufig – die ich übrigens sehr mag; es ist die Form, in der am besten geflirtet werden kann, finde ich. Man kann jemanden auch einfach Monsieur oder Madame nennen, ohne Nennung des Namens. Das geht hierzulande gar nicht: Würde ich jemanden einfach nur mit „Herr“ ansprechen? Diese Anrede ist bei uns dem christlichen Gott vorbehalten. Oder mit „Dame“? Im französischen ist das Alltag: „Bonjour Madame, pouvez vous me dire..“
Warum, um Himmels willen, könnte man fragen, sollten wir es uns so kompliziert machen mit all diesen Varianten?
Weil sie Spielräume eröffnen! Dynamik. Hoffnung. Gratwanderungen. Koketterie. Behutsamkeit. Kritik. Alles! Im „Sie“ kann man sich als komplexer Mensch wunderbar bewegen, verbale Wagnisse eingehen, sich elegant zurückziehen, Unmut ausdrücken, die eigene Würde bewahren, Diskretion walten lassen. Auch die Sprache bietet mehr Möglichkeiten. Ein schlechter Tag, eine schwierige Laune: Wie schwer lässt sich das im Reich des „Du“ in Worte fassen, ohne gleich sehr persönlich zu werden. Eine mutwillige Laune? Um wie viel flirrender sind die Möglichkeiten, diese mit ihrem großen Potential an Verspieltheit im „Sie“ unterzubringen.
(Natürlich spreche ich hier nicht über den Umgang mit Freunden, Vertrauten, über die „entmilitarisierte Zone“, wie ich die Wohnung meiner Freundin P. früher nannte: Dort sollen die Barrieren fallen, klar. Aber dort ist auch Diskretion vereinbart. Ich liebe Diskretion. Ich praktiziere sie mit aller Inbrunst. Der Grund, warum ich mich nur so selten besaufe ist der, dass ich in den Tagen danach immer völlig zwanghaft überlege, ob mir im Zustand der Entgrenztheit ein Satz entschlüpft sein könnte, der besser unausgesprochen geblieben wäre.)
Wie dem auch sei: Enge Freunde sind, natürlich, Teilhaber am eigenen Leben und als solche befreit von allen Formalismen. (allerdings nicht von Achtsamkeit) Auch meine Eltern hätte ich nicht siezen wollen, auch wenn mir das als Teenager bestimmt manchmal sehr gelegen gekommen wäre…
Nein, ich spreche von der Art und Weise, wie man sich im Alltag mit dem noch unwägbaren Außen in Verbindung setzt. Sein gesellschaftliches Sein errichtet, benennt und abgrenzt. Da täte etwas mehr Form manchmal ganz gut, finde ich. (In meinen Dreißigern hatten fast alle meine Texte einen Appellcharakter, sie richteten sich direkt an ein Publikum, das ich immer siezte.)
Es gilt, etwas zu bauen. Die Persönlichkeit braucht ein Haus, ebenso wie der Körper. Man muss wissen, wo man es hinstellt und die anderen sollten wissen, wo es zu finden ist. Doch nicht jeder sollte die gleiche Tür nehmen.
Sichtbar gemacht, wäre mein Haus fürchterlich anzuschauen! Gut, dass sein Abbild mein Geheimnis bleibt. Es ist ein verkantetes, wucherndes Ding, anarchisch, klassich, altmodisch gleichzeitig, hier ein Fluchtweg, dort Sackgasse, Boudoirs, verrammelte Keller, Spielwiesen, verrauchte Salons, Beichtkammern, Verschneckungsräume, Kanzeln, Hörsäle. Seine Substanz mal weich, mal hart, mal transparent, mal opak; durch manche Wände könnte man sich notfalls Öffnungen schneiden, andere bleiben ganz undurchdringlich. Sichtbar gemacht wäre es ein Unding, das Haus meiner Persönlichkeit, doch vor meinem inneren Auge tritt es genau so in Erscheinung. Und es verändert sich von Tag zu Tag ein bisschen. Ich kann es ganz gut leiden und baue gerne daran herum.
Gestatte ich nun einer „Du“-Person freien Eintritt in alle Räume? Gewiss nicht. Mit ihrem vertraulichen Du im Rucksack könnte sie hemmungslos überall ihr Lager aufschlagen, picknicken wo es ihr gefiele und ich hätte keine Handhabe außer der direkten Vertreibung, um sie wieder loszuwerden. Anders eine „Sie“-Person: Ich kann sie fast bedenkenlos herumführen. Die Art, wie sie reagieren, sich äußern wird, kann der Substanz des Hauses nicht wirklich gefährlich werden. Warum? Weil sie sich in Acht nehmen wird! Weil die „Sie“-Person Hoffnung hat, irgendwann einmal Einlass zu den inneren Gemächern des „Du“ zu bekommen. Solange das nicht so ist, folgen wir einer – im besten Fall vergnügten und spielerischen – Choreografie des Verhaltens, der Sprache, des Andeutens und Weglassens. Wir führen uns durch unsere Häuser, lassen da ein Zimmer aus, biegen dort kurz vor einem Korridor ab, in letzter Sekunde. Vor Peinlichkeit, sich-verpflichtet fühlen oder allzu riskanter Enthüllung schützt uns der Gang zu einem Fenster: Das nach draußen schauen, verallgemeinern, abstrahieren.
Ich bin der „Sie“-Person sehr zugetan. Wenn sie klug ist, wirbt sie nicht darum, möglichst schnell größere Vertrautheit zu errichten, sondern orientiert sich erst einmal ausgiebig in meinem Haus, bietet den Gegenbesuch an, lässt hier und da ein paar Andeutungen fallen, lockt mit Nähe, verwirft sie in einem kleinen Nebensatz wieder. Lässt mich bei sich umherstreifen, um beim nächsten Mal so zu tun, als hätte es diesen Korridor, jene interessante Kammer nie gegeben. So kommen Herausforderungen zustande. Auf diese Weise lernt man, wie Aufladung funktioniert! Rituale des Umgangs miteinander: Wir sollten mehr davon haben. Wir sollten ein bisschen mehr Magie entwickeln in dieser Sache, sonst kriecht Langeweile in unsere Außenbeziehungen.
Denn das so genehme „Du“ ist oft ein Trampel. Einmal angeboten, kann es nicht mehr zurückgenommen werden.