Sonntag, 10. Dezember 2006

Ich lese gerade ein Buch von Pascal Mercier, „Nachtzug nach Lissabon“. Mercier ist Professor für Philosophie in Berlin, Anfang sechzig. Ich frage mich seit mindestens hundert Seiten, wie er aussieht, was für ein Mensch er ist. Warum ein so gediegener Titel? Wer greift sich den? Denn das Buch ist gut. Es geht um einen Lateinlehrer, (der so alt sein mag wie der Autor), der eines Morgens ohne Erklärung mitten im Unterricht seine Klasse verlässt. Er setzt sich in den Nachtzug nach Lissabon: Die autobiographischen Aufzeichnungen eines dort beheimateten Arztes, die er in der Nacht zuvor zu lesen begonnen hat, haben ihn in Bann gezogen. Dieser Portugiese scheint sich Fragen über Freundschaft, Einsamkeit, Liebe und Tod zu stellen, die der Lateinlehrer selbst sich nie zu stellen gewagt hat. Er fühlt den unwiderstehlichen Drang, dem Leben dieses Mannes nachzuspüren, sein eigenes erscheint ihm mit einem Mal ganz unwirklich. Er versucht, Amadeo de Prado, den Verfasser, in Lissabon aufzuspüren. Der Arzt ist tot. Doch einige der Menschen, die in seinen Aufzeichnungen auftauchen, sind noch da. Der Lateinlehrer beginnt, Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Nach und nach entsteht das Bild, das Leben des unbekannten Verfassers, vor seinem inneren Auge.
Und vor dem des Lesers.
Das allein würde mir nicht genügen – interessant ist, wie Mercier das Buch baut. Es ist glasklar konstruiert. Und funktioniert trotzdem als Roman, obwohl die Konstruktion dahinter jederzeit sichtbar bleibt: Ein Mann, dessen Leben festen Regeln unterworfen ist, entdeckt (zufällig) ein Buch, das sein Leben verändern wird. Er lässt zu, dass diese neue Quelle des Denkens von ihm Besitz ergreift. Es ist die Geschichte einer Anverwandlung. Die Themen sind von Anfang an deutlich.
Es gibt die Ursache der Reise, die philosophischen Gedanken des Arztes. (Sie sind Bestandteil von „Nachtzug nach Lissabon“, kursiv gedruckt, damit ja kein Durcheinander entsteht). Der Lateinlehrer liest weiter in den Aufzeichnungen, während er in Lissabon Nachforschungen nach dem Portugiesen anstellt. Bereits am Anfang findet er heraus, der Arzt ist seit dreißig Jahren tot. Doch was ist mit seiner Frau, seinen Geliebten, seinen Freunden und Feinden? Jedes Mal, wenn der Lateinlehrer in den Aufzeichnungen auf einen neuen Namen trifft, versucht er, diese Person in der Gegenwart zu finden. Die Dialoge mit diesen Menschen treiben den Roman voran. Nach und nach gewinnt das Bild des unbekannten Arztes an Kontur. Der Lateinlehrer entwickelt ein Ritual, um seine Reise in die Vergangenheit dieses Mannes zu intensivieren: Er macht einen der Orte ausfindig, an denen der Gesuchte Spuren hinterlassen hat, ein altes, inzwischen dem Verfall anheim gegebenes Gebäude. Dort hinterlegt er die Aufzeichnungen in der Schublade eines verlassenen Schreibtischs. Er wickelt sie in einen seiner Pullover, um sie zu schützen. Nachts begibt er sich an diesen Ort, öffnet die Schublade und liest.
„Nachtzug nach Lissabon“ ist ein Güterzug. Gemächlich rattert er dahin und nimmt den Leser mit. In jedem Waggon trifft man auf neue philosophische Ideen. Doch sie werden durch die Charakterisierung des Lateinlehrers, der ein einsamer, etwas unbeholfener Mann ist, zugänglich gemacht. Das Belehrende an ihnen vermischt sich mit den menschlichen Schwächen des Lateinlehrers und wird dadurch schmackhaft. Es sind gute Ideen; es lohnt sich, ihnen nahe zu treten. Angenehm, wie es Mercier gelingt, seine Inhalte so darzubieten, dass auch ich als routinierte, ungeduldige, arbeitsscheue Leserin nicht die Lust am Weiterlesen verliere. Mir gefällt Merciers Grundfrage: Was würde passieren, wenn man ohne Vorwarnung auf ein Buch träfe, das stark genug wäre, das eigene Leben völlig aus den Angeln zu heben, so, wie es dem Lateinlehrer geschieht? Ich überlege, was für ein Buch das in meinem Fall sein könnte. Wie müsste es beschaffen sein? Welche Fragen müsste es aufwerfen, welchen Geschmack müsste es haben, dass ich ihm verfallen könnte? Und vor allem: Wo ist es zu finden? Denn die Idee, ein Buch könne so mächtig sein, ein reales Leben auf den Kopf zu stellen, ist von großem Reiz. Vielleicht habe ich deswegen angefangen, zu schreiben: Weil ich ahne, dass dieses Buch für mich nicht existiert. Ich muss es selbst verfassen.

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