[…] Auch heute ist das öffentliche Leben zu einer Pflicht‑ und Formsache geworden. Ihren Umgang mit dem Staat betreiben die meisten Bürger im Geiste ergebener Zurückhaltung, aber die Entkräftung der öffentlichen Sphäre geht weit über das eigentlich Politische hinaus. Umgang und Austausch mit Fremden gilt allenfalls als langweilig und unergiebig, wenn nicht gar als unheimlich. Der Fremde wird zu einer bedrohlichen Gestalt, und nur wenige Menschen finden Gefallen an jener Welt von Fremden, die ihnen in der kosmopolitischen Stadt entgegentritt.
Eine res publica umfaßt allgemein die Beziehungen und das Geflecht wechselseitiger Verpflichtungen zwischen Leuten, die nicht durch Familienbande oder andere persönliche Beziehungen miteinander verknüpft sind; sie bezeichnet das, was eine Masse, ein »Volk«, ein Gemeinwesen verbindet, im Unterschied zu den Familien‑ und Freundschaftsbanden. Wie in den Tagen Roms ist die Teilnahme an der res publica auch heute eine Sache des beiläufigen Auftritts; die Foren dieses öffentlichen Lebens, etwa die Stadt, sind in Verfall begriffen. […]
Richard Sennett, aus: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens / Die Tyrannei der Intimität
Frankfurt am Main 1987, S. 15‑46, 329‑340, 424‑428.
Fischer Taschenbuch Verlag
TT’s neue Lektüre.