Himmel hilf, ich bin eine Person ohne Newsflash, eine Person, die soeben, während Sie lesen, sehr still aus dem Fenster sieht und bemerkt, die Luft ist voll mit Millionen winziger Quallen, die lässig ihre Fäden baumeln lassen. Eine Person, die heute schweigend und lauschend alles durchdringt, Häuser, Straßen, den Winter, die Angst. Damit meine Quallchen nicht verenden, denke ich Frostschutzmittel nach draußen; die Hitze kommt nach. Versprochen! Wir sind, was unsere Sinne schmieden: wer braucht da Fakten? Wer die Aufzählung der Toten und Verletzten, die aus den Informationskästen murmelt, als ob man nicht die Geborenen zählen könnte, als gälte nicht auch ihnen unser Mitgefühl, unser Respekt. Ich weigere mich zu hören, wie viele von uns heute das Fleisch verlassen, ich will wissen, wie viele entstehen: ob im Körper oder als Wille und Vorstellung. Wir sind wirklich nur ein bisschen fleischlich; der Rest ist schiere Vorstellungskraft. Lassen wir das Klirren zu, den Schlaf, das Verzagtsein. Es ist eine Langsamkeit um uns her; unsere Fingerspitzen sind uns fremd, so wie frierendes Fleisch immer fremd scheint. Im Winter sind Zungen zuverlässiger als Finger: Küssen Sie jemanden!
14:06
Ach ja, von wegen Gefühle und falls Sie’s nicht eh schon gelesen haben: Melusine hat heute ein >>> wunderbares Jauchzen formuliert, das Alexander Kluge gilt. Er ist heute achtzig geworden.
Er ist ja the king. Unabhängig von meiner nicht nachlassenden Begeisterung für diesen Mann, der hemmungslos und unablässig Begriffe mit Anschauung verwebt, stellte ich mir aber kürzlich doch eine Frage, folgende nämlich: Diese unzähligen, fragenden, akzentuierenden “ja?” in seinem Redefluss – was bedeuten die bloß? Merkt er nicht, dass das nervt?
Die Sache ist die, Herr Kluge ist nicht nur der King, sondern auch der gute Onkel.
Irgendwann kam ich drauf: Der Mann hat sich im Laufe seines Lebens einen schönen, substanziellen Brei zusammengekocht. Sehr nahrhaft. Nun will er uns den füttern. Weil er aber weiß (im Gegensatz zu uns) wie enorm dick der Brei, wie viel davon vorhanden ist, gibt er uns das Zeug Löffelchen für Löffelchen. Einen für Mama, einen für Papa, und dann der ganze Rest der Familie. Wie der gute Onkel, der zu Besuch kommt.
Und jedes “ja?” bezeichnet den Moment, in dem er sich vergewissert, dass wir runtergeschluckt haben, bevor er seinen Löffel wieder in den Brei tunkt.
Ja, nicht! Große Literaten scheinen sich trotz oder wegen ihres Ruhms immer wieder vergewissern zu müssen, ob das Gegenüber noch folgen kann und will. Thomas Bernhard sagte ständig “Nicht?”, und auch bei W. G. Sebald findet sich das. Regionaldichter sagen wahrscheinlich dagegen ständig Gell?, Niwahr?, Nö?, Woll?, Wonnich? usw., bei jedem Häppchen einmal. So lange der Brei genießbar ist …
Ach, Norbert W., meine Seminarteilnehmer:innen behaupten ja, ich würde ständig GELL? sagen. Ich gehöre also (*seufz*) zu den Regionaldichterinnen! Werd’ dieses Prädikat aber mit Würde tragen. Gell?
Ach was, Elfriede Jelinek zählt sich selbst zu den Regionaldichterinnen und hat den Nobelpreis bekommen! Außerdem können Sie sich Ihr GELL ja abgewöhnen, wenn Sie wollen, was ja umso leichter ist, da Frankfurt am Main ja weder zu Nord-, Süd-, Ost- noch Westdeutschland gehört, ohne gleich Hochdeutschland zu sein. Nicht wahr!
Abgewöhnt, wenn auch schweren Herzens, hab’ ich mir das “irgendwie”, so ungefähr mit sechzehn. Eine traumatische Erfahrung. Seitdem gewöhn’ ich mir nur noch Sachen an! : )
Das habe ich mir auch abgewöhnt, das “irntwi” mußte weg. Anderen habe ich manchmal so Dauersätze wie “hätte ich fast gesagt” abgewöhnt, nämlich durch Dauerparodierung. Angewöhnt habe ich mir zum Beispiel das Wort Sack-Gasse, mit K und Pause und dann einem G, welches ich nur als Sackasse kannte. Allerdings sollte man auch nicht zu deutlich sprechen, dann hört nämlich niemand mehr zu.
Schöner Text oben – wollte ich schon heute Morgen schreiben, aber ich bin krank und fiebrig und schaffte es nicht das ellenlange Password bei twoday einzugeben, bevor mir die Augen zugefallen sind.
Immer küssen – und bloß nicht mit kalten Fingern auf nackte Haut tippen. Sag´ ich, nein schrei ich dem Michberührer auch am Abend zu!
Kluge ist King! Die “Ja”s sind so schön verzögernd. Ich mag das eh, das Tastende, sich unsicher Vergewissernde, vielleicht weil ich selbst so stürmisch und rücksichtslos bin? (Parodieren lässt sich das auch herrlich. Ich glaub, ich hab schon mal auf das Video-Comic verlinkt, in dem Kluge Werner Herzog befragt???)
So – weiter schlafen!
Gute Besserung, liebe Melusine, und schöne Grüße an den Küsser!
Das hier, ja? http://www.youtube.com/watch?v=ZrbcXnZAoqg
Gute Besserung!
Gleich!
Geschafft!
küssen sie jemanden. würde sehr gerne, nur leider ist im moment grad keiner da… so halte ich mich dann an die vorstellungskraft, bis er bei mir auf der matte steht…
@Gamine Ich sag’ meinem Briefträger Bescheid, er soll Ihnen einen vorbeischicken! : )
Der Kuss der Kuss. Wenn ich es mir recht überlege, glaube ich an nichts anderes.
Amen!
“Mille baci. Alle fünf Minuten normale Küsse, alle fünfzehn Minuten heiße Küsse, alle dreißig Minuten Küsse in den Mund, alle sechzig Minuten verzehrende Küsse. Beim Herumgehen im Massimo-Park wahllose Küsse. Küsse betont gleichgültig auf den Bus Wartende, aber küsse den Busfahrer wie einen verlorenen Sohn. Fange einen Priester ab und küsse ihn römisch. Küsse im Vorübergehen, küsse auf der Flucht, küsse im Supermarkt. Auf dem Markt küsse alle aufgeschnittenen Früchte. Küsse die Sicherheitsbeamten in der Agrarbank wie ein Irrer, küsse den Pförtner des berüchtigten Parteihauses in der Straße der dunklen Geschäfte wie ein Christdemokrat, empfange alle den Petersplatz ansteuernde Busse aus Baden-Württemberg und küsse die Aussteigenden wie ein Landesvater, küsse hinterrücks alle auf der linken Straßenseite gehenden Frauen mit Hut auf die tiroler Art, küsse Farbigen die Hand, Geisteskranken die Stirn. Nutze Erstaunen, Reklamationen und Fragen der Geküßten, um unverzüglich deine Sprachkenntnisse anzuwenden: “sono stippi” et cetera.”
Otto Jägersberg, “Unter Kunstzwang. Römisch in 30 Tagen. Brocken aus den Herzenserleichterungen eines Massimo-Stippis” [woraus sich die Bedeutung von “stippi” zwangsläufig ergibt], in: Dichten und Trachten. Komische und wehmütige Geschichten eines Liebhabers der Literatur und des Handels. Sonderdruck für Freunde des Autors im Buchhandel. Frühjahr 1984. Diogenes.
@Parallalie … Und für alle, die nicht gleichzeitig unter Kunstzwang stehen, sicherlich noch einen Tick einfacher zu befolgen… : )
Schwer amüsiert,
Miss TT