Ich komme darauf, weil drüben in Die Dschungel >>> gestern anlässlich des Freitods von Fritz J. Raddatz die Rede davon war. Und weil in der Diskussion um ein selbst bestimmtes Lebensende immer heftig Zündstoff freigesetzt wird, wie die Kommentare zeigen.
Auseinandersetzungen zu diesem Thema versteh’ ich, kann mich aber auf keine “Seite” schlagen. Muss an mir liegen. An meiner seltsamen Bereitschaft, mir den Tod vorzustellen. Klassischerweise frönt man Todesphantasien als Teenager und legt sie irgendwann im Laufe des Erwachsenwerdens ab. Hat bei mir aber nie stattgefunden, ich hab’ im Laufe der Jahre immer wieder über den Tod gesprochen und wie er sich idealerweise vollziehen sollte: mit meinem Vater schon Jahre, bevor er starb, mit meiner Mutter, obwohl sie hoffentlich noch ewig leben wird und auch mit meiner Schwester gelegentlich. Sprechen über Sterben ist für mich normal, einfach Teil meiner Vorstellungswelt. Wie gesagt, das mag eine familiäre Eigenheit sein.
Ich will in diesem Zusammenhang nichts sagen über in Heimen untergebrachte Menschen, denen die Erben auf der Bettkante sitzen. Und schon gar nicht nichts über den moralischen Druck, dem ein Mensch ausgesetzt sein könnte, wenn der Freitod nicht mehr tabuisiert, sondern zu einer Art verantwortungsbewussten Akts deklariert würde, sobald man “zu nichts mehr nütze” ist.
Hilflose müssen geschützt werden. Immer. Mit allen Mitteln.
Verzeihen Sie mir bitte, liebste Leser:innen, den schlichten Tonfall meiner Überlegungen. Ich kann nur einfach schreiben zu diesem Thema oder gar nicht. Vielleicht sollte ich’s auch lassen.
Aber.
Mir liegt etwas an der Vorstellung frei und bewusst gewählter Lebensabschnitte, wozu dann auch das endgültige Abschneiden des Lebens gehört, wenn der Zeitpunkt nach eigenem Ermessen gekommen ist. Das Bewusstsein dafür kommt nicht über Nacht, zumindest sehe ich es so. Sondern es begleitet einen mehrere, vielleicht viele Jahre. Bis man irgendwann sagt: Bevor mir der Verstand schwindet, verschwinde ich. Oder bevor ich unablässig auf fremde Hilfe angewiesen bin. Oder bevor die Schmerzen…
Es gibt so viele Gründe, wie es Menschen gibt, nehme ich an. Wichtig, für mich, ist das “bevor”. Also, sich für den Tod zu entscheiden, wenn möglich, bevor Fremde ins eigene Sterben mit hineingezogen werden. Das ginge. Vielleicht.
“Sich das Leben nehmen.”
Merkwürdig, oder? Die Doppelbedeutung.
Ich muss weg, bin verabredet. Schade, der Text steckt irgendwie noch in den Kinderschuhen.
Ein Text über den Freitod (im Alter), der aber selbst, der Text nämlich, noch in den Kinderschuhen steckt – na, da haben Sie aber einen schönen Bogen geschlagen!
Es war einfach ein schönes Bild, fand ich.
Ja, fand ich auch!
Freitod Was den Begriff angeht, stimmte mich nachdenklich, dass die empirische Evidenz tatsächlich Unfreiheit nahe legt. Eine Metastudie (aus 2004) arbeitete heraus, dass bei knapp 90% der untersuchten Suizide (über 3.000) eine diagnostizierte psychiatrische Störung vorgelegen hatte. Ob unter dieser Vorbedingung noch von Freitod gesprochen werden kann? Für die verbleibenden gut 10% der Fälle mag der Begriff vielleicht gepasst haben, für die knapp 90% wohl eher nicht.
Man kann’s auch anders betrachten, etwas forscher: 90% der Suizidenten waren zum Freitod nicht befähigt. Dieser blieb einer kleinen Minderheit vorbehalten, welche sich – es sei mir die Schiefe des Bildes verziehen – vor dem einbestellten Tod als “satisfaktionsfähig” zu erweisen vermochte. Damit beschreibe ich jenes heroisierende Element im Begriff, dem manche Kritik offen entgegen tritt. Zurecht, wie ich meine.
Der Begriff Freitod kann sich in meinen Überlegungen nur dann mit Sinn füllen, wenn das Leben zum Wohle anderer weggegeben wird – kühl berechnet uneigennützig. Alles andere folgt einem subjektiven Eigennutz und ist eben deshalb nicht frei, jedoch nicht minder zu respektieren.
Sich das Leben nehmen
wie einen prallen Apfel
von der üppig gedeckten Tafel
unter der ausladenden Linde
am hellblausten Sommertag
im dröhnenden Schwingen
des Zwölfeläutens.
Schwulst, ja sicher.
Doch im Prinzip funktioniert’s so,
wenn du den Weg dorthin findest :: Erziehung.
wenn du vorgelassen wirst :: Bildung.
wenn du verdrängst :: Wettbewerbsfähigkeit.
wenn du dich :: nützlich erweist.
Wehe, du wirst abgeschnitten, verstoßen gar. Der soziale Tod setzt sich sogleich fest und nagt dir klaffende Löcher in deinen dürstenden Beziehungskörper. Nach und nach amputierst du schwärende Gliedmaßen, um nicht vorzeitig zugrunde zu gehen. Entstellt bleibst du, falls du überlebst, für den Rest des Lebens, das du dir nicht nehmen konntest, durftest, wolltest; dir nicht zu nehmen wusstest.
Mich interessiert Raddatz’ Tod nicht so sehr. Mich interessierte vielmehr, wie gerade er zum Stillstand kommen konnte.
Mich interessierte, wieviel Leben verloren geht, bis es schließlich genommen werden muss.
Lieber Textflüsterer, Ihre Bedenken dem Begriff gegenüber kann ich gut nachvollziehen. Bis auf Ihre Schlussfolgerung, eine Tat, die subjektivem Eigennutz folgte, könne eben deshalb nicht frei sein. Einfach, weil mir die Vorstellung schwer fällt, wie sich Ego-ismus aus einem Handeln, egal welchem, überhaupt heraushalten ließe: selbst aus dem vermeintlich uneigennützigsten.
Die Vorgänge, auf die Sie in der Folge anspielen, Ausgrenzung, weil man bestimmte Kriterien nicht erfüllt, der soziale Tod: Solche Erfahrungen sind ganz sicher geeignet, manch einen Menschen zum Aufgeben zu bringen. Ob solch ein Schlußstrich dann bis zur Aufgabe der Existenz führt, lässt sich sicher durch Studien rekonstruieren, aber ich selbst mag mir keine Quasi-Objektivität aneignen, wenn ich darüber schreibe.
Wir, Sie und ich, gehen das Thema von unterschiedlichen Ausgangspunkten aus an, scheint mir: Sie von der Seite der Unausweichlichkeit, ich von der Seite des freien Willens. Das Thema wüchse mir sonst über den Kopf; ich maße mir nicht an, über die Motive von Menschen zu spekulieren, die den Tod wählen, weil er die letzte Tür ist, die ihnen subjektiv noch bleibt.
Meine Beschäftigung mit dem – nennen wir’s “letzten Akt”, um den Begriff des “Freidod” zu vermeiden – kommt stattdessen aus einer “was wäre wenn” – Fragestellung. Was wäre, wenn beide Bedeutungen von “sich das Leben nehmen” gleichwertig in einem individuellen und gesellschaftlichen Selbstverständnis verankert wären. Man liest ja eigentlich immer nur von einigen wenigen, meist gebildeten, berühmten und wirtschatlich nicht schlecht situierten Menschen, die aus Gründen, die sie meist schon Jahre vorher publik gemacht haben, aus dem Leben gehen. Von den anderen erfährt die Öffentlichkeit nicht viel, außer im Rahmen von Studien und Statistiken.
Mein eigener Zugang ist fiktiver. Ich will keinen tatsächlichen Ursachen auf den Grund gehen, hab’ kein Vertrauen, dass ich den großen Maßstab bewältigen könnte. In meinem kleineren, subjektiven, stellt sich mir “nur” die Frage, ob man ein freiwilliges aus dem Leben gehen überhaupt unbelastet diskutieren könnte, ohne dass von Anfang an Kapitulation, Scham oder Angst mitschwingt: als eine Art Lebens-Thema.
@Textflüsterer. Ich halte Ihre Einlassung über “Frei”- oder “Nichtfrei”-Tod für nicht sehr weiterführend, weil sie letztlich überhaupt die Frage nach dem Freien Willen stellt, was den speziellen Bereich, um den es hier geht, in ein unpraktikabel-Allgemeines hinwegabstrahiert. Auch kann ich, was zum Beispiel psychische Störungen angeht, die so groß sind, daß man sich von ihnen durch einen Freitod befreien will, keinen Unterschied zu dem Willen sehen, sich etwa von einem drohenden Alzheimer (Gunther Sachs) oder den Zumutungen einer Chemotherapie zu erlösen. In jedem Fall ist der tatsächliche oder drohende Leidensdruck so groß, daß weiterzuleben den Betroffenen nicht mehr als eine lebenswerte Option vorkommt. Wenn mir ein dauernde Sichtum drohte, wäre es mir völlig egal, ob man dann meine Entscheidung als Ausdruck freien Willens sieht; wichtig ist allein, daß das Leiden endet. Genau deshalb verfängt auch Ihre moralische Hinsicht nicht: Selbstverständlich ist ein Freitod eigennützig. Die einzig hier gestattete moralische Frage ist, inwieweit er andere Menschen dauerhaft beschädigt; aber auch diese Frage können nur Nichtbetroffene stellen. Das Leid der Betroffenen nämlich ist so groß, daß sich keine Distanzierung mehr herstellen läßt, die indes für eine moralische Abwägung nötig wäre. Etwas anderes ist ein Freitod aus, sagen wir, Selbstachtung. Hier kann in der Tat noch abgewogen werden. Wenn ich zum Beispiel ein Kind habe, das von mir abhängt und auch noch nicht in der Lage ist, meine Entscheidung zu verstehen, würde sich solch ein Freitod aus Selbstachtung verbieten.
@Textflüsterer Aus der Diagnose ‘psychisch krank/gestört’ [ein Begriff, der (a) ohnehin übergeneralisierend (b) kultur- und zeitabhängig ist (c) als Klassifikation äußerst unscharfe Ränder ins ‘Normale’ hat] die Abwesenheit Freien Willens schließen zu wollen, erschließt sich mir durchaus nicht.
Wirklich inspirierend: “…
Was wäre, wenn beide Bedeutungen von “sich das Leben nehmen” gleichwertig in einem individuellen und gesellschaftlichen Selbstverständnis verankert wären.
…”
… denn sie führen weiter in Gedanken, dass man sich letztendlich nicht das Leben, sondern den Tod nimmt, vergleicht man die Phrase mit der einleitenden Zeile des Gedichtes des Textflüsterers (der/…in?), also:
Sich den [Tod] nehmen
wie einen prallen Apfel
[…]
Und da verliert das ganze an Charme. Wem der Tod ein praller Apfel ist, gut, warum nicht.
Den Tod wie einen prallen Apfel nehmen, hin-, an- … ach, da wird das Leben mir zum Wurm
der Apfel, wurmstichig, relativiert, Apfelmus alles Nach-Schreiben um den Tod anderer.
Das Leben, noch immer Wurm im Sinne meiner Überlegung, erhofft sich ein Wurmloch und die Passage
in ein anderseitiges Fortbestehen.
Und … Freitod? Las hier vieles, das ich schon gelesen und wahr halte.
Freitod:
Man nimmt sich die Freiheit und nimmt sich das Leben.
Man nahm sich das Leben und nahm sich die Freiheit.
Man ist so frei und nimmt sich den Tod.
Man nahm sich den Tod und war so frei.
@:Ludwig Auch das eine feine Doppeldeutigkeit:
Man nahm sich das Leben und nahm sich die Freiheit.
Umgeformt lautet die zweite Bedeutung “Man begab sich des Lebens und beschnitt sich die Freiheit.”
… und beschnitt sich die Freiheit. Exakt dieser Handlungskonsequenz versuche ich nachzuspüren. Die Freiheit [zu leben] kann ich mir nur dann aus freien Stücken selbst beschneiden, wenn sie nicht bereits beschnitten ist – aus welchen Gründen auch immer; die sind wahrhaft sonder Zahl. Wenn die Freiheit aber schon beschnitten ist, habe ich zwar immer noch die Freiheit, mich aus diesem in den Möglichkeiten Reduziertsein durch Suizid zu befreien. Dann ist’s aber kein Freitod mehr, sondern ein letzter Befreiungsakt, ein sich Entziehen.
Der Befreiungstod hat nach meiner Auffassung eine gänzlich andere ethische Qualität, als der Freitod. Und genau darauf, auf diesen Unterschied, kommt es mir an.
@:Ludwig Das Wurmloch! Das hatte ich noch nicht gedankengespielt. Danke für’s Wurmloch.
*lächelt*
Haben Sie Dank für Ihre Erwiderungen. Alle. Lassen Sie mich klarstellen, dass ich die individuelle Entscheidung, aus dem Leben gehen zu wollen, akzeptiere und respektiere. Ich bin dabei, entgegen der geäußerten Annahme, nicht von moralischen Prinzipien geleitet.
Was indes ich keineswegs akzeptiere, ist die Verkürzung einer Kausalitätskette. Um an Raddatz’ Schicksal anzuknüpfen: Niemand, der Raddatz’ Tagebücher gelesen hat, wird vernünftig auf die Idee kommen können, dass einige seiner Erlebnisse nicht von lebenslang prägender Natur gewesen sein konnten. Wer sich das eingesteht, kommt um die Frage nicht herum, was Raddatz zu seiner finalen Entscheidung bewogen haben könnte.
Sobald diese Frage auch nur als blasse Ahnung am Horizont auftaucht, ist’s bereits um die Annahme eines freien Suizids geschehen. Der “letzte Akt” ist dann zweifelbehaftet, steht nicht mehr für sich allein, ist bloß denkbare Folge. Wo die Möglichkeit eines kausalen Zusammenhangs nicht zweifelsfrei ausgeschlossen werden kann, lehne ich den Begriff Freitod strikt ab. Neben dem schon angesprochenen [und abzulehnenden] heroischen Element enthält der Begriff nämlich auch eine zu decouvrierende euphemistisch-exkulpierende Seite. Mit dem Freitod des anderen hat man selbst ursächlich nichts zu schaffen. Das ist nicht [nur] in persönlichem Kontext zu verstehen, sondern vor allem in gesellschaftlich-kulturellem.
Mit dieser präzisierenden Erläuterung meines Denkvorganges sollte gleichzeitig zutage treten, dass für “freien Willen” am Ende des Lebensweges durchaus Vorstellungsraum verbleibt. Doch will ebenso bedacht werden, dass die Fiktion des freien Willens höchst umstritten ist. Sie wirkt zunächst als juristisches Konstrukt, als ein gesetztes Fundament. Ohne diese Fiktion ist die praktizierte Form der Rechtsprechung schlicht nicht möglich. Der “freie Wille” muss bis zur allgemein anerkannt abschließenden Klärung eine Glaubensangelegenheit bleiben.
Freier Wille, damit auch der freie Suizid, muss logisch-zwingend als kontextunabhängig aufgefasst werden, andernfalls die Vorstellung vom freien Willen ad absurdum geführt wäre. Kontextabhängigen – also aus Schlussfolgerungen entstandenen – freien Willen kann es nicht geben. Ich muss nicht auf die mittlerweile allgemein bekannten Erkenntnisse der Hirnforschung zurückgreifen, um das Determiniertsein individuellen Handelns zu begreifen. Der Mensch als soziales Wesen ist für sein Überleben notwendig von seiner Anpassungsleistung an vorgefundene gesellschaftliche Bedingungen abhängig. Freier Wille scheidet deshalb als hinreichende Überlebensbedingung von vornherein aus. Im Gegenteil: Er gefährdet das individuelle Überleben sogar.
Auch der Umweg über die freie, gewillkürte Beschränkung impulsiven Wollens – die Selbstregulierung also – verstrickt sich in einer höchst unübersichtlichen Abwägungssituation. Immerhin aber lässt sich bewusst entscheiden, ob einem Impuls zu einer, sagen wir beispielsweise: strafbewehrten Normübertretung gefolgt wird, oder eben nicht. Das setzt aber, wie unschwer einleuchtet, die Kenntnis der Norm einerseits und der Strafbewehrung andererseits voraus. Daraus leite ich abstrahierend her, dass freier Wille bereits durch die Unvollständigkeit der Informationsbasis (von der potenziellen Unkorrektheit derselben ganz zu schweigen) bis zur Unkenntlichkeit beschädigt wird.
Damit komme ich zum vorläufig abschließenden Teil meiner Antwort auf die Erwiderungen, welcher sich der Qualität psychischer Beeinträchtigung widmen will.
Die verursachte Qual einer nach gängigen diagnostischen Maßstäben auch nur mittelschweren Depression ist für unbelastete Menschen kaum vorstellbar. Die Auswirkungen schon gar nicht. Eine der schwerwiegenden Auswirkungen kann als normabweichende, dennoch gültige Wahrnehmungsperspektive beschrieben werden. Ein schönes Beispiel dafür findet sich >>> dort. Die Frage liegt auf der Hand, welche Schlussfolgerungen gezogen werden aus gültigen Beobachtungen aus jener Perspektive. “Da komm’ ich aus eigener Kraft nicht mehr hinauf” ist ohne weitere Anhaltspunkte zweifellos eine zutreffende Schlussfolgerung.
Hinzu kommt verschärfend die Möglichkeit, dass ein Symptom, diagnostisch zwar korrekt, dennoch unzutreffend, als Ursache markiert wird. Wer den formal-kompetent abgezäunten Rahmen nicht zu sprengen wagt, wird über kurz oder lang den finalen Ausweg aus dem Leidenszustand zu explorieren beginnen. Dabei erweist sich die resignierte Aussage hilfreich (ist natürlich vergifteter Sarkasmus), dass ein Ende des therapeutischen Weges absehbar sei: austherapiert.
Es bedarf enormer Gewalt (ja, Gewalt), dieses Diktum zu sprengen und lautstark die Forderung herauszuschreien: “Wirft mir jetzt endlich jemand die Strickleiter herunter?!”. Ist nämlich auch ein gültiger Ausweg, wenngleich von Assistenz abhängig. Und dann kommt sie, die Strickleiter. Alarmiert heruntergeworfen, unbefestigt. Auch dieses niederschmetternde Ereignis ist überwindbar. Wieder mit enormer Gewalt. Am Ende fügt sich, dass verständige Mitmenschen die fest verankerte Strickleiter ausrollen und das erschöpfende Hochklettern mit einem Seil sichern.
Ob eine Lebenssituation für aussichtslos gehalten wird, entspringt subjektiver Beurteilung. Die Aussichtslosigkeit als nicht akzeptabel zu empfinden, ebenso. Der Entschluss aber, unter den empfundenen realen Bedingungen dem eigenen Leben ein Ende zu setzen, kann unter gar keinen Umständen als frei bezeichnet werden (ich kann bei dringendem Bedarf argumentativ nachlegen, wäre aber froh, darauf verzichten zu dürfen).
Auf den Ausgangspunkt zurückkommend, schließe ich den Kreis mit der Frage: Welche gestaltende Möglichkeiten konnte Raddatz selbst, aber auch sein Umfeld nicht erkennen? Und zwar bereits auf dem Weg hin zum “letzten Akt”. Dass sein Wille Erfüllung fand, mag von anderen unter moralischen Gesichtspunkten diskutiert werden, von mir allerdings nicht. Dass sein Wille aber “frei” sein konnte, bestreite ich.
(nachgetragen: Ich moralisiere, soweit es die Begriffsverwendung betrifft, des “Freitods” nämlich. Das sei ausdrücklich zugestanden.)
@Textflüsterer Nicht ganz einfach zu lesen, Ihre Erläuterungen, für mich zumindest. Deswegen erst einmal ein wirklich herzliches Danke! – für Ihre Zeit und Ihre Überlegungen. Ich werde den Text noch einige Male lesen, bevor ich dazu etwas sagen oder in einer anderen Form reagieren kann.
Liebe Phyllis, meine Anknüpfung oben an :Ludwig mag wenigstens das Ziel meines Nachdenkens fassbar machen. Mein Schreibstil in Sachen Nachdenkarbeit ist in der Tat schwerst verbesserungswürdig. Beim Lesen ziehe ich den “schlichten Tonfall” eindeutig vor. Ich schaff’s leider noch nicht besser. Fragen Sie nach. Häppchenweise.
“… kommt um die Frage nicht herum, was Raddatz zu seiner finalen Entscheidung bewogen haben könnte.”
Genauso erging es mir auch.
Spontan fiel mir dazu auch der Film im Ersten von heute Nacht ein: Der freie Wille. [http://zattoo.com/program/ard/17292426-der-freie-wille] Zweifellos handelt er von einem Psychopathen, aber daran lässt sich ja gerade die Crux des freien Willens bzw. der Bedingtheit des Handelns ganz gut exemplifizieren.
Angesichts der Leichtigkeit, mit der heutzutage hierzulande der Suizid als “freie Entscheidung” geradezu propagiert wird, muss man sich fragen dürfen, ab wann es denn als freie Entscheidung gilt, leben zu wollen. Will ich das am Ende nur, weil ich zu feige bin zum Sterben? Das fragt sich doch aber kein normaler Mensch!
Todesbereitschaft und Heldenhaftigkeit hingen schon immer irgendwie zusammen. Lautet die berechtigte Frage also vielleicht: Suchen wir einen Grund, uns als Helden erweisen zu können? Aber Heroisierung, das will hier doch keiner!
Mein neugeborenes Enkelkind trägt einen Strampelanzug, auf dem steht: “Ich bin ein kleiner Held!” Also die Kleinen kleine Helden und die Großen große? Und den Kleinen wird’s noch so zugestanden, bevor sie noch irgendwas gemacht haben als sich ins Leben gekämpft (aber hallo, reichlich unterstützt durch Hormone!!) — da muss man von den Großen doch wenigstens eine “freie Entscheidung” verlangen! So kommt es mir vor.
Mir geht ein Satz nach aus dem Film >>> An Unfinished Life: “Will you bury me next to Griffin?” (am Ende des Films erlöst Mitch mit dieser Frage seinen Freund Einar von dessen quälenden Schuldgefühlen).
Der [nahende] Tod stellt die letzte große Vertrauensfrage ins Leben. Wo Vertrauen nur brüchigen, oder vielleicht gar keinen Halt mehr findet, ist der Weg frei, die natürliche Entwicklung im letzten Lebensabschnitt vorzeitig zu beenden. Der Eindruck von Selbstbestimmung tröstet darüber hinweg, dass das Leben nicht [mehr] trägt. Leben besteht, so sehe ich das, aus dichtem Beziehungsgeflecht.
Gerade fällt mir ein… da gibt’s sexuelle Begegnungsmöglichkeiten, die ohne bedingungslose Vertrauensbasis nicht erfüllend verwirklicht werden können. Wenn das Vertrauen erschüttert wird, ob durch Unverständnis oder auch nur durch Unachtsamkeit ist dafür nicht relevant, kann diese besondere Lebensäußerung unter Umständen nie mehr, auch mit anderen Partnern nicht, erlebt werden.
Der selbst gewählte Tod ist ein Verzicht auf das letzte Stück Leben, welches ohne bedingungsloses Vertrauen in die Tragfähigkeit desselben nicht angenommen werden kann. Und dafür habe ich, glauben Sie mir bitte, wirklich tiefes Verständnis. Vor diesem Hintergrund aber von einer freien Willensentscheidung zu sprechen, halte ich für Selbsttäuschung.
Leben annehmen.
Leben abgeben.
Ich denke, dass sich Freiheit im gelassenen Abgeben letztgültig verwirklicht.
Lieber Textflüsterer, das unterschreibe ich.
Gelassenheit Ich habe mir die eine Szene aus dem Film nochmals angesehen. Dabei stieg in mir ein Gedicht Erich Frieds hoch.
Aber
Zuerst habe ich mich verliebt
in den Glanz deiner Augen
in dein Lachen
in deine Lebensfreude
Jetzt liebe ich auch dein Weinen
und deine Lebensangst
und die Hilflosigkeit
in deinen Augen
Aber gegen die Angst
will ich dir helfen
denn meine Lebensfreude
ist noch immer der Glanz deiner Augen
Glücklich all jene,
die sich am Ende
voll Vertrauen
tief in die Augen sehen.
Und sich den Humor bewahren.
“Muter und tapfig”
@ IGing Also, meine Leichtigkeit ist das nicht: jene, die im Land propagiert wird, wie Sie schreiben. Im Gegenteil, ich finde es ziemlich schwer, dem Thema … na, sagen wir, auf meine Weise “gerecht” zu werden. Ich nähere mich an.
Und spiele damit. Denn sachlich kann ich das nicht diskutieren.
Die Tatsache, dass die Kommentator:innen sich durchaus poetisch zum Thema verhalten, zeigt (zumindest mir), dass auch andere da etwas spüren, dem mit vermeintlicher Objektivität nicht beizukommen ist. Statt sich aber in konträren Positionierungen zu verrangeln, werden sprachlich verschiedene Ansätze durchgespielt. Finde ich schön. Diese Ahnung, dass sich die Menschen, die hier mitschreiben, grundsätzlich gewogen sind, auch bei Uneinigkeit.
Ja. Ihre Ahnung trügt Sie nicht.
Das freut mich, Iging.
Herzlichen Dank, liebe Phyllis, für diesen wunderbaren Text. Sein “schlichter Tonfall” bedarf keiner Entschuldigung: genau darin, und in seiner klugen, empathischen Sicht auf die Dinge des Lebens – fern aller intellektuellen Gewichtheberei – liegt seine Stärke. Ich hatte vor einiger Zeit Anlass, mich mit dem Freitod zu beschäftigen und entdeckte in Robert Pfallers sehr empfehlenswertem Buch “Wofür es sich zu leben lohnt” diese Zeilen aus der Feder Brechts:
“In Erwägung, dass ihr uns dann eben
Mit Gewehren und Kanonen droht
Haben wir beschlossen, nunmehr schlechtes Leben
Mehr zu fürchten als den Tod.”
Es versteht sich, dass Kanonen von äußeren wie inneren Dämonen gleichermaßen in Stellung gebracht werden können.
P. S. Ich vermute, die Redewendung “sich das Leben nehmen” entspringt christlicher Ideologie, wonach nicht uns (respektive jedem Einzelnen) das Leben gehört, sondern Gott.
@Der Dilettant Den Pfaller empfahl mir bereits ANH: Ich hab’ aktuell “Zweite Welten und andere Lebenselixiere” auf dem Nachttisch liegen. Sollte mir der Stil zusagen, besorge ich mir auch das von Ihnen erwähnte – danke für den Tipp. Umd den Brecht. Und die freundliche Rückmeldung auf meinen Text!
Zur gesellschaftlichen Dimension des Suizids noch ein kritisches Wort.
In Deutschland trug sich zu, dass ein junges Liebespaar sich entschlossen hatte, gemeinsam aus dem Leben zu scheiden – im PKW des jungen Mannes durch Vergiftung mittels eingeleiteter Abgase. Der Vorgang wurde entdeckt. Die Frau war bereits tot, der Mann allerdings wurde reanimiert, dessen Suizid vereitelt. Es folgte ein Strafverfahren gegen den Mann. In zwei Instanzen wurde er freigesprochen, der BGH allerdings befand ihn der Tötung auf Verlangen für schuldig, weil’s sein Fuß war, der das Gaspedal durchgetreten hatte.
Gesetzt den Fall, beide waren gesichert unheilbar sterbenskrank. Das hätte am Urteil des BGH nichts zu ändern vermocht. Im umgekehrten Fall, man stelle sich das kurz vor, dass nämlich die Frau überlebt hätte, wäre auch sie strafrechtlich belangbar gewesen – wegen Begehung durch Unterlassung. Durch diese gesellschaftliche Verfasstheit also müssen wir navigieren.
In diesem Lichte erscheint mir die breit in Diskussion gezogene Legalisierung der aktiven Sterbehilfe als besonders erschütternd. In einem Land, das sich zurecht seiner Schaffenskraft rühmt, verrecken Altenpfleger am langen Arm. Mittlerweile wurde auch amtlich eingeräumt, dass etwa 40% der heute Erwerbstätigen sich auf Altersarmut einzustellen haben. Kommunale Infrastruktur geht jämmerlich zugrunde. Der geneigten Leserin fällt noch vieles weitere ein.
Dass es allgemein an palliativer Versorgung mangelt, an sozialen Begegnungsräumen, an Kriseninterventionseinrichtungen, ist kein ökonomisches Problem, sondern ein ausschließlich politisches. Die Verteilungsfrage wurde eindeutig und überprüfbar beantwortet. Dieses Problem hat sich über die letzten 30 Jahre entwickelt und mittlerweile verfestigt.
Beobachten kann man die Auswirkung auch am gewandelten Sprachgebrauch. Ich will den Begriff “Freitod” nicht zu Tode reiten (mäßig witzig, ich weiß). Stattdessen ziehe ich den Ausdruck “Asylbewerber” pars pro toto heran. Im landläufigen Verständnis hat man sich also um Asyl zu bewerben. Das Grundgesetz hingegen normiert: “Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.” Konsequenterweise ist im Grundgesetz auch von Asylbegehren die Rede. Das Anrecht auf Asyl muss nicht einmal bewiesen, sondern lediglich glaubhaft gemacht werden. Von einer Bewerbung kann daher nicht im entferntesten die Rede sein. Im Kopf hat sich dagegen eine Erwartungshaltung festgesetzt, wie sich ein Bewerber zu verhalten hat. Mit Ambivalenzen dieser Art sind wir alle täglich konfrontiert, ohne dass wir uns dessen bewusst wären. Wir erspüren’s aber und beginnen irgendwann, dauerhaft zu leiden.
In dieses Gesamtbild will ein Todeswunsch eingeordnet sein.
freitod ist nicht gleich freitod. tragisch ist er immer dann, wenn ein mensch, der an sich lebensfähig ist, sich z.b. aufgrund von depressionen das leben nimmt… ; oder wenn ein mensch in eine derart desolate lebenssituation gerät, dass er keinen anderen ausweg mehr sieht. tragisch ist es, wenn der freitod eigentlich ein verzweifelter hilferuf ist.
es gibt vielleicht menschen, die nie auf den gedanken kämen, sich das leben zu nehmen. vieles hängt auch mit der lebenseinstellung zusammen – ein ziemlich komplexes thema.
ich verurteile niemanden, der sich das leben nimmt. man muss das einzelne schicksal beleuchten.
der freitod am lebensende oder bei unheilbarer krankheit ist ebenso eine individuelle entscheidung und als solche zu respektieren.