Im Atelier direkt über dem meinigen singt ein junger Mann: nicht sonderlich gut, aber inbrünstig. Es wird einer der Maler sein, oder ein Bildhauer. Jene, die aufgrund ihrer Sangeskünste ein Stipendium innehaben, proben meistens zu zweien in den Räumen am Ende des Korridors, die sind mit einem Klavier ausgestattet.
Der Korridor ist lang, sehr lang, und gesäumt von Holztüren, auf denen jeweils ein kleines Messingschild prangt mit dem Namen des Landes, welches das Atelier und das Stipendium bezahlt. Manchmal ist es auch eine Stiftung. Oder etwas ganz anderes. Auf meiner Tür, beispielsweise, steht:
Atelier François Preziosi
Tombé en mission le 17. Août 1964
Ich habe nachgelesen. François Preziosi. Ein italienischer UNHCR Mitarbeiter der International Labour Office. 1964 verlor er sein Leben bei dem Versuch, ruandische Flüchtlinge im Ostkongo zu beschützen.
Ein merkwürdiges Gefühl, in einem Atelier zu wirken, das mit dieser Geschichte verknüpft ist. Fast wie ein Hinweis.
Wie fühlte es sich in mir an, würde ich „arbeiten“ durch „wirken“ ersetzen? Schwing Dich auf, dann kommt auch Wind, flüstert eine Stimme in meinem Kopf. Klingt nach Sanssourir.
Ateliers sind Krisenräume. Wenn eine Stimme etwas anderes behauptet, muss sie künstlich hinzugefügt sein. Keine von meinen.
Alles, was von außen kommt, ist gut.
Alles, was von außen kommt, ist verfälscht.
Für das, was zählt, gibt es kein dictionnaire.
Aber die Mauern.
Dahinter zu sein.
Ich zweifle an mir wie am ersten Tag.
Es gibt einen interessanten Unterschied zwischen authentisch und ehrlich. Irgendwann werde ich ihn herausfinden. Man kann, und das ist wirklich eine große Erkenntnis für mich, nicht alles nachschlagen.
Inbrünstig die Hitze von beiden Seiten; am Tage ganz gewellt. Die Nächte hingegen legen sich wie Lappen übers Gemüt, drücken es flach, sehr sanft, wie ein zum Trost für den Geist ausgelegtes Tuch.
Wenn ich erwache, ist es immer schon hell.
Während wir in den Tag gleiten, sind wir noch alle beisammen, Farah, Sanssourir, Sha’ und ich, erst nach dem ersten Cafe au lait übernimmt eine von uns die Führung. Sha’ indes nicht, sie ist die einzig Abhängige, deswegen spreche ich nicht von ihr. Das verschafft ihr etwas Freiheit.
Er singt nicht mehr.
Etwas hat ihn gepackt, an den Tisch, die Staffelei geführt. Vielleicht liegt er auch auf dem alten, schwarzgrünen Linoleumboden, der sich durchs ganze batiment zieht: gebügeltes Wachs. Kann sein, er hechelt in der Hitze und vom Singen. Ich werde ihn nie kennen lernen. Ich lerne hier niemanden kennen, meide die Künstler im Haus, spreche nur mit Menschen auf der Straße. Berichte aus anderen Krisenräumen? Das fehlte mir noch. Doch eines Abends, gegen Ende hin, werde ich die Tür meines Ateliers öffnen. Ich werde sie mit einem Zettel versehen, auf dem steht:
Venez me voir.
Wer sich dann traut, ist mehr als willkommen. Bis zu diesem Tag indes vergehen noch welche: an denen das gellende Licht wie ein Bulldozer auf die Fassade knallt, durch die ältlichen Scheiben meiner langen Fensterfront, durch meine Poren und mein Fleisch bis ganz tief hinein. Endlich hell von innen. Die Organe sieden feucht vor sich hin.
Ha, eine Wiese, ein Meer! Was tu ich nur? Was ficht mich an, mir ein heißes Stück Metall auf den Schoß zu legen?
Fantastischer Text! Über einen hochintensiven Zustand: Tage, “an denen das gellende Licht wie ein Bulldozer auf die Fassade knallt, durch die ältlichen Scheiben” – ältliche Scheiben! – “meiner langen Fensterfront, durch meine Poren und mein Fleisch bis ganz tief hinein.” Sind aber nicht Poren Teile des Fleisches, Siebe ohne Löcher noch Siebe? “Die Organe sieden feucht vor sich hin.” – Wer, aber, ist Sha’, deren – sic!- Abhängigkeit ihr Freiheit, wenn auch nur ein wenig, verschafft? Schrieb sie hier schon? Dann hätte ich etwas verpaßt.
Nicht Abhängigkeit, @ANH, verschafft ihr Freiheit, sondern dass ich nicht von ihr spreche.
Im übrigen freut mich Ihre Reaktion auf den Text sehr!
Fleisch hat keine Poren, Haut hat Poren. Daher ists schon klug durchdacht …
Wie auch das phonetisch ähnliche gellen statt grelle im Verbund mit knallen. (Der Bulldozer “mit wie” ist das weniger, meine ich. Zu langsam für ein Gleichnis zu Licht und knallt nicht. Mir fällt allerdings nichts Besseres ein.)
Die Scheiben, das Gebäude, sind sie alt? Mit zunehmendem Alter kristallisiert das Glas, feine Kristalle trüben das Glas.
Früher war die Herstellung von Glasscheiben einheitlicher Dicke schwierig, was sichtlich auffällt: alt, nicht ältlich.
Da Glas sich in einem metastabilen Zustand befindet, soll es auf es einwirkende Faktoren wie Temperaturveränderungen “erinnern” können,
heißt es, somit, mir neu und interessant, kann man bei einem alten Gebäude wohl davon ausgehen, dass solche Temperaturänderungen über Jahrhunderte(?) hinweg sich durchaus summieren dürften: ältlich, RUMMS, und alt.
:)!
@:Ludwig Der Vergleich von Licht und Bulldozer gefällt mir auch noch nicht ganz – aber ich hab’s so genossen, das Wort zu schreiben! BULLDOZER! Jeij! *lacht*
“Ältlich” hingegen stimmt, denn das Gebäude samt Fenster und Scheiben stammt aus dem Jahr 1965, ist also noch nicht alt. Dabei gibt es durchaus einige batiments der Cité des Arts, die die Hundert längst überschritten haben, nur eben nicht das, in dem ich logiere.
“Metastabil” ist ein gutes Wort. Hab eben kurz recherchiert, ob es auch in anderem als dem offensichtlichen Zusammenhang gebraucht wird, bei den Psychologen beispielsweise, fand aber auf den ersten Blick nichts. Wird auf jeden Fall ab sofort in den Wort:Schatz aufgenommen zur Weiterverwendung und mutwilligen Neubesetzung. Womit wir dann wieder bei den Häusern wären.
Und dass die, by the way, ein Gedächtnis haben, dürfte wohl niemand ernstlich in Frage stellen wollen.
Ah, soviel Textlandschaft! Neugierig laufe ich die Satzfluchten entlang und beschnuppere intensiv die Wortfugen (Krisenräume: welch diametrale Bedeutungsdüfte!). Schließlich packe ich vorsichtig einen Satz am Genick und trage ihn behutsam in meine windschiefe Hütte (auch ein Krisenraum besonderer Art, übrigens). Der Satz lässt mit sich geschehen, wehrt sich nicht – “authentisch und ehrlich” hinterlassen eine unscheinbare Schleifspur.
Dem Unterschied zwischen authentisch und ehrlich spüre ich nach, indem ich mich frage: “Kann ich authentisch unehrlich sein?” Darauf muss ich ehrlich mit “Ja” antworten und mich weiter fragen, ob diese Antwort nun authentisch ist. “Nein” sage ich mir, die triviale Lösung ausschließend (dass nämlich die Antwort von mir selbst stammt).
Während ich den Gedanken bekaue, bemerke ich den feinen Geschmack seines Markes. Ehrlichkeit, so erkenne ich, beschreibt punktförmig Momente meines Daseins. Wie viele Punkte aber muss ich aneinanderreihen, bis ich eine “authentische” Linie erahnen kann?
Wollte ich Authentizität in Analogie dazu als Daseinskontinuum auffassen, welches ich im Hier und jetzt bahne, stieße ich aber auf ein ganz anderes Problem:
Kontinuität ist nicht spürbar, bloß die [drohende] Abweichung davon. Ich erfahre meine Authentizität regelmäßig in Randbereichen; dort, wo’s unangenehm wird. An den Randbereichen aber kann ich mich entscheiden (wenn ich’s denn kann), ob ich mich in den empfindungsgemäßen Normbereich zurück reguliere, oder den Randbereich durchbreche. In beiden Fällen erweist sich Authentizität als Ausdruck von Unfreiheit. Denn:
Regulierte ich mich zurück, bliebe ich unbewusst in einem [teils fremden] Werte- und Überzeugungsschema verfangen. Dann ist das Kontinuum aber gerade dadurch determiniert, ergo nicht frei gestaltet. Ich nenn’ das mal vorläufig einen indirekten Beweis. Überschritte ich indes den Randbereich irgendwann doch einmal, erbrächte ich mir unmittelbar den direkten Beweis für meine bisherige Unfreiheit. Das gelingende Überschreiten setzt nämlich enorme Willensenergie voraus.
Dieses Zwischenergebnis bedenkend, beschleicht mich der Verdacht, dass “Authentizität” als gesellschaftliches Kontrollkonstrukt erfunden wurde. Der zugehörige Imperativ könnte lauten: “Empfinde dich so, dass wir unsere Erwartung deines Handelns als zuverlässig wahrnehmen können!”
…
Während in der Abendschwüle meine Zunge am Gaumen klebt, bugsiere ich mit der Schnauze den Begriff “Wahrhaftigkeit” dazu. Freigeistiges Gedankenkauen kommt später dann wieder. Ich such’ mir erst mal eine Bierpfütze.
*wuff* ; )
Das ist eine sehr eigen:willige Interpretation von Authentizität, die Sie da erschnuppert haben, Spürhund. Wär’ ich nie darauf gekommen – aus meiner eigenen Biographie heraus war “ehrlich” immer das fernere Wort und auch dasjenige, mit dem mehr Druck von außen aufgebaut werden kann. “Authentizität” hingegen war etwas, was ich beständig von mir selbst verlangt habe, also Innendruck. Im Grunde sind mir aber beide nicht geheuer.
Werde Ihren Kommentar morgen noch einmal lesen.
*maunz!” ; )
Stimmt natürlich (kann deshalb auch nicht nachgeschlagen werden)!