Das Gehen.
Fünf Uhr morgens. Ich trete zum Fenster, fasse den Stab, schiebe das schwere gewebte Tuch zur Seite, es gleitet fast von alleine auf seiner Schiene. Noch dunkel.
„Wir werden ins Schweigen gehen“ hatte die Frau mit dem weißen Haar an unserem ersten Tag gesagt. Was wir wissen müssen, steht auf Blättern und Schildern; es gibt keinen Grund zu sprechen. Das lange Tuch, das um ihre Schultern bis zur Mitte ihrer Oberschenkel hängt, gerät den ganzen Tag über nicht in Schwingung. Sie zupft nie etwas zurecht.
Als sie das erste Mal im Raum die Schale anschlug, deren Ton die reglosen Zeiten bestimmt und beendet, liefen mir bis zum Abend Tränen der Erleichterung über das Gesicht, weil endlich still war. Das Schweigen: lang gesuchte Freundin.
Mein Fenster ist schmal und hoch.
Jeden Morgen, wenn ich hinausblicke, sind sie bereits da, und jede Minute werden es mehr. Unten im Hof. Sie laufen in weitem Kreis zügig um den Brunnen, lautlos, niemand stockt, niemand schaut auf, niemand grüßt. Ich kleide mich, gehe langsam die Treppen zu ihnen hinunter, beschleunige den Schritt, der Kreis saugt mich ein.
Ab und an tritt jemand aus dem Gebäude und schlägt das Holz. Wenn das geschieht, bleibt man stehen und verneigt sich. Ich weiß nicht, vor wem oder was ich mich verneige, doch das ist nicht schlimm. Wir beugen die Oberkörper mit aneinandergelegten Handflächen, sehen aus den Augenwinkeln, wie die Gerufenen den Kreis verlassen, um in ihren Raum zu gehen, wir aber nicht. Die Weißhaarige hat gesagt, frühmorgens im Hof gelten die Hölzchen nur für die anderen.
Am ersten Tag hat sie noch viel erklärt. Inzwischen genügt uns ein Neigen ihres Kopfes, eine leichte Bewegung ihrer Fingerspitzen. Wenn sie nach einer halben Stunde schnellen Gehens um den Brunnen anhält, um die Übungen zu beginnen, spüren wir ihr Innehalten schon Sekunden vorher.
Dann grüßen wir, schweigend, mit den fließenden Bewegungen, die sie uns zeigt. Jeden Stein, jedes Blatt, jede Schnecke, jeden Partikel, der auf unsere Haut trifft, die nun langsam in den sich aufhellenden Morgen einsetzenden Geräusche, das Wasser im Brunnen, den Himmel, die Sonne, den Boden, auf dem wir stehen. So viele Sachen habe ich in meinem ganzen Leben noch nie auf einmal begrüßt. […]
Intensiv. Leben.
Beeindruckend. (Auch – während ich Ihre Erzählung lese – das Fehlen meiner, eines Vitalisten, inneren Skepsis.)
Die Skepsis dürfte bleiben, wenn sie wollte. Doch ihre vorauseilende Natur hat im Jetzt keinen Platz.
Beeindruckend, diese Antwort!
Da sind Sie ja endlich einmal wieder, Doktor Shine : )