Adlersprech

Ich sah meine Geliebten auf der Bühne, vollständig bis zu jenem ersten, der tatsächlich Mann war: vor ihm gab es Jünglinge. Er stand hinten in der Ecke, nackt wie alle anderen. Mit der Rechten hatte er seinen Schwanz etwas gehoben, ließ ihn in der Handfläche ruhen. Es ist angerichtet, schien die Geste zu sagen.
Niemand sprach. Ich stand vorne und betrachtete mir das wie ein Bild. Hatten wir Publikum? Falls ja, war es still. Dies ist kein Text, nur ein Erinnerungsfragment.
Vielleicht waren es Melusines Überlegungen zur Scham, die mich die Bühne betreten ließen. Wer Regie führte, keine Ahnung; ich jedenfalls war Statistin. Das passt zum Passivsein – gestern erzählte ich ihr davon an den Gleisen. Jemand anderes schrieb, wissen Sie, dass manche Männer eine Scheu haben, sich aufgerichtet zu zeigen. Merkwürdig, dass ich mir das sofort vorstellen konnte.
Meine Akteure waren nicht befangen. Vielleicht weil sie wussten, dass die Aufstellung eine statische war: es würde nichts weiter passieren.
So weit. Wer liest schon gern von fremden Träumen?

Aber folgen Sie mir doch in den nächsten Raum.
Schöpferisches Handeln bringt Bühnen mit sich, wer die Rampe scheut, hat es schwer. Wer sich schämt, ebenfalls. Schließlich muss bei allem Willen zur Abstraktion zunächst das eigene Herzfleisch ans Licht und betrachtet werden. Die Rohsubstanz: das, woraus sich alles weitere ableitet. In der Kunst geht’s viel um Übersetzungen. Dafür liegt ein Originalskript vor, das aus einem einzigen Wort besteht: „Ich.“
Daraus entsteht alles Weitere. Eigentlich irre, oder?
Ich hab’ immer geglaubt, auf diesem Wort einen Palast gründen zu können. Um neues, auch für andere gültiges Vokabular zu generieren. Vor allem aber wollte ich über das Originalskript hinauswachsen, mich zum abstrahierenden Denken aufschwingen! Ich wollte Adlersprech lernen.
Hat nicht geklappt.
Wegen der Scham. Ich glaube, ich hänge doch sehr an ihr. Was sich an ihr vorbei auf die Bühne drängelt, hat für mich Wert. Der Aufwand hat für mich Wert. Und er kostet so viel Kraft und Zeit, dass ich das mit dem Adlersprech ganz vergessen habe! Manchmal bedaure ich das. Dann aber höre ich sie oben schreien und denke: mein Fleisch kriegt ihr nicht.

Im Originalskript steht allerdings etwas anderes.

17 Gedanken zu „Adlersprech

  1. Adler und Maus Das wollte ich auch, Adlersprech lernen. Umgeben von lauter großen Vögeln (männlich), die so klug wirkten. Unter deren Fittichen. Aber I c h kann nicht fliegen. Eine Maus. Ein Fraß für die. Will ich sein. Diese perverse Sehnsucht konnte das “Ich” auch produzieren. Bis eine Stimme rief: “Ich bin nicht die Maus.” Und das war auch i c h. 😉 “Mein Fleisch kriegt ihr nicht.” (Aber mich. Manchmal. Manche.)

    Auf die Scham kann ich nicht verzichten, weil ich mich durch sie erkenne.
    – Ich weiß, wer ich bin, wenn ich erröte.
    Kann ich den Satz stehen lassen?
    (I can´t forgive Descartes.)

    • Adler und Katze Wenn die schwer genug ist, fällt sie nicht mehr ins Beuteschema. Dennoch sucht sie immer noch den Himmel ab, während längst welche an ihrer Seite Schutz finden. Perverse Sehnsucht? Die besingen Sie nicht alleine.

      (me neither.)

  2. ich mag die fabel von dem adler, der unter lauter hühnern aufwächst. er würde gern fliegen, aber das traut er sich bis zum schluss nicht zu, da er sich für ein huhn hält. wobei schamlos natürlich nicht dasselbe wie mutlos ist. aber die gegenteile vielleicht verwechselt werden könnten.

  3. Befangen vs. passieren Mh. Wird man(n) befangen, wenn man(n) weiß, daß etwas passieren wird (sollte)?

    Interessanter Gedanke.

    Wenn unbefan… Verzeihung … Neuanfang …

    Wenn *nicht* befangen, dann wird womöglich das ruhende Glied so passiv nicht sein, da die Hand unmerklich aber bestimmt es leicht schaukelnd das Unbehagen des all zu Statischem vergessen lassen möchten wird (oder so).
    In der Regel fühlen sich aufgerichtete Schwänze nicht mehr lange zur Senkrechte hoch hingezogen, wenn ja gar nichts passiert.

    • @Genuin Sie sind nicht der Erste, der sich irritiert zu meiner Bühnen-Aufstellung äußert. Mein Bild sei, sagten Freunde, nicht mannestypisch. Auch in meinem Roman Fettberg kommt eine Szene vor, in der ein alter Mann seinen Schwanz von Hand hebt: Der Lektor hat’s angestrichen zur Überarbeitung.
      Hm.
      In meinem Traum haben sich wohl die weiblichen mit den männlichen Anteilen zu einer Geste vermischt. Mir würde eine nackte Frau, die eine ihrer Brüste hochhebt/in die gewölbte Handfläche legt, als sehr natürliches Bild erscheinen. Ein Mann, des Gleiches mit seinem Schwanz macht, “funktioniert” anscheinend nicht. Auch das “Anrichten” funktioniert nicht. Zumindest aus der Warte der Freunde, die sich dazu geäußert haben.

      Ein notiertes Traumbild muss nicht verbessert werden. In einem Roman aber darf ein Leser nicht über “falsche” männliche Gesten stolpern, sonst schmeißt es ihn aus dem Text. Interessant, das. Ich muss darüber nachdenken.

      Meine interpretierende Erinnerung war ja die: die nackten Männer auf der Bühne sind unbefangen, weil sie wissen, dass nichts passieren wird. Das scheint aber eine eher weibliche Reaktion zu sein. Mir kommen da zum Beispiel Frauen in den Sinn, die sich bei schwulen Männern besonders wohl fühlen.
      Das nackt stehen und sich anbieten wirkt anscheinend auch devot – ein Eindruck, den ich im Traum nicht hatte. Mir kam das eher wie Selbstverständlichkeit vor. Gelassenheit.

      Alles noch unausgegoren.

    • Spannend. Ich könnte mich jetzt bestätigt fühlen. Die Geschichte der Voyeure. Die ist nicht geschlechtsneutral. Geschenkt. Aber sie lässt sich (immer noch?) nicht herum drehen, einfach so. Theo im Bade? Michael Perkampus schrieb mir mal, das gebe es sehr wohl: Frauen, die sich anschleichen, um einen nackten Mann zu beobachten. Männer, die sich unter der Beobachtung …??? (Ich kann es mir nicht vorstellen.)

      Vor dem Guckkasten sitzt man als Mann? Scheinbar. Auch wenn man als Frau reinguckt? Im Guckkasten “verweiblicht” der Mann (die Effeminierung des Schauspielers?)?

      (Ich halte nichts vom Biologismus, ja, ich halte ihn für gefährlich. Aber natürlich ist´s doch was anderes, eine Brust in der Hand zu halten als ein Glied. Obwohl sie beide offenbarend sein können. Aber die Brust …wie soll ich sagen…muss nichts “beweisen”, bäh, klingt das blöd! Irgendwie stimmt das auch nicht. So. Darüber will ich auch noch mal nachdenken.)

      Als ich dieses Traum-Bild las, musste ich an den Geliebten einer Freundin denken, der sie morgens früh nach einer Nachtschicht im Krankenhaus erwartungsfroh nackt im Hausflur erwartete, frohgemut, dass seine Nacktheit sie unmittelbar stimulieren würde. Ob er wohl sein Glied in der Hand hielt? Ich habe nie gefragt. (Werde ich nachholen.)

    • @MelusineB Das Bild von der Nachtschichtigen und ihrem frohgemuten Nackten ließ mich eben hell auflachen!
      Alles weitere später, muss erstmal mein Soll Manuskriptüberarbeitung erfüllen.
      (Warum, zum Henker, hab’ ich mir eigentlich einen Beruf gewählt, der so schrecklich viel Disziplin verlangt? Wahrscheinlich, weil er m i c h gewählt hat. Nein, S i e. Die Berufung.)

    • @ Phyllis: Liebhaberaufstellung — Nicht so der Widerspruch Das paßt nach wie vor: Ich halte diese weibliche Sicht nicht unbedingt für männerfremd.
      Das Anheben und Ruhen lassen kann in der Tat sehr entspannt, muß nicht unbedingt devot sein.
      Dieses bleibt (wie beim Igel) lediglich in der Macht des Lesers, bzw. seiner Sicht, seines Blickwinkels, seines jeweiligen Interesses (kommt da wirklich ein “s” am Ende?).

      Daß die Hand sich ein bißchen bewegt, paßt auch zur Hand der Frau und ihre Brust.
      Ein bißchen bewegen, leicht der Druck eines Fingers verändern, die Fläche, Hautbeschaffenheit, Gewicht, das sich (sehr leicht) verändernde Geruch an der Luft wahrnehmen, die innere Bewegung des ihre Freiheit wahrnehmenden Fleisches, Gewichtsverlagerungen, Blutdruck-, Schwerkraft-, Gedanken- oder Temperaturbedingt.

      Ganz unbeweglich kann ich mir das Bild nicht vorstellen, auch wenn statisch, irgendetwas wird sich immer ereignen.

      Wie beim Film, wo auch in statischen Szenen sich immer etwas bewegen wird, sonst wird der Zuschauer irritiert (es ist nie das gleiche Bild, das für 3 Sekunden 71 Mal dupliziert wurde, sondern mindestens zwei aber lieber mehr, sonst “friert” der Zuschauer mit dem “einfrieren” des Bildes).
      So stelle ich mir das vor, so als Metapher, als “Beispiel aus der Küche”.

      Aber schön zu hören, daß dieses Bild öfters irritiert. Das gefällt mir an Ihre Arbeit besonders, hatten Sie es gewußt?
      Jetzt wissen Sie’s 🙂 <- Ja, das ist ein Smiley, tja, so ist das manchmal. Ich behalte zwar mein altes “ß”, benutze dennoch neue Buchstaben hin und wieder.

    • @MelusineB: Nackt vor der Tür Ach, ein Mal bei der geliebten Frau schellen, nackt im Flur vor der Tür, eine Rose quer im Mund …

      In der Tat, die Hände nie *vor* dem Schwanz.

    • @Phyllis Das Bild des “Anrichtens” funktioniert schon – allerdings mit dem Anheben des Skrotums. Versuchen Sie’s mal und beobachten Sie, wie dadurch der Penis gebettet ruht. (so ließe sich auch etwas mehr Abstand zum Bild des Urinierens gewinnen)

    • @Kienspan Bevor ich das Wort “Skrotum” verwende, fällt mir die Hand ab! : )
      Überhaupt fühlen sich die Schulbuchbezeichnungen der Geschlechtsteile immer falsch an beim Schreiben. Gut gefiel mir ja immer “Gemächt”, aber das wirkt heutzutage wie ein Fremdkörper.

    • Ich anerkenne selbstverständlich Ihren poetologisch grundierten Einwand gegen den (medizinischen) Terminus – doch bedenken Sie auch die Gewaltfreiheit im Gegensatz zum «gimaht» (ahd.) … ; )
      (ist es das denn nicht, ein Fremdkörper? weshalb sonst die sprachlichen Bürstungen?)

      nachgetragen: und eben hat sich mir dadurch eine neue Sichtweise auf Melusines jüngste Darlegungen, die Sie im Beitrag verlinkt hatten, eröffnet.

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