Vierter Brief. Worin L. ein höchst fragwürdiges Angebot erhält.

K****, 13. Juni 2010, Nachts

Lieber Dr. Sago,

da liegen sie, die hohen grünen Schuhe. Haben sie mich wirklich den ganzen Tag durch die Stadt getragen? Doch ohne sie hätte sich wohl jenes nicht ereignet: Doktor, ab morgen bin ich eine Andere… Oder… vielleicht auch nicht.
In dieser Stadt wird ständig gefilmt; besonders ihre engen Gassen scheinen es den Drehbuchschreiberlingen angetan zu haben. Die Sonne war aber auch besonders mild am späten Nachmittag! Man hätte Kuchen in ihrem Licht ausbacken mögen.
Ich hatte mir eben erst einen sehr aparten Ring gekauft und schritt, auf rohen Steinen sorgfältig einen Schuh vor den anderen setzend in Richtung meiner Unterkunft, als sich mir ein Mann aus den Halbschatten entgegen warf. „Sh***tis k***ma!“ rief er und packte mich am Arm.
Worüber ich so erschrak, dass ich fast zu Boden gesunken wäre, hätte mich jener Rüpel nicht eben noch aufgefangen! Wie ich die Scheinwerfer und Kameras, all die Menschen nur hatte übersehen können…? Ich ging mit geneigtem Kopf, auf die vermaledeiten Pflastersteine achtend.
(Sie lächeln? Ich kenne Sie!)
Da hing ich nun recht unelegant in den Armen des, wie mir schnell klar wurde, Regisseurs, die Augen der gesamten Mannschaft auf mich gerichtet.
„Let go! You’re breaking my arm!“ quiekte ich und versuchte, Stand unter die Füße zu bekommen. Er lachte. Das nun brachte mich in Zorn und ich trat ihm von rechts mit dem Absatz ans Schienbein. (Ich weiß wohl, was Sie jetzt denken)
„Br** nub***s! Nu*m masr**** al**ija!“ zischte der Kerl und ließ los, allerdings nicht, ohne mir in gemeinster Absicht einen Stoß zu verpassen.
Ach, Doktor! Ich stürzte ihm zu Füßen.
Nachdem ich meine Schuhe gerichtet hatte, erhob ich mich mit aller gebotenen Würde, glauben Sie mir. Keiner der Umstehenden lachte. „Come on…“ hörte ich jemanden flüstern, dann etwas, das wie eine Anweisung klang. Unmittelbar darauf hörte ich diesen Knall, den riesige Scheinwerfer machen, wenn sie anspringen… (Ich kenne das Geräusch aus diesen „Making of“- Filmen)
Jeglicher Sicht beraubt, stand ich benommen. Eine Frau löste sich aus der Menge (ich konnte indes kaum ihre Umrisse erkennen) trat näher, nahm meine Handtasche vom Boden und schickte sich an, mich aus dem gleißenden Licht zu führen. Wir hatten uns bereits einige Schritte entfernt, als der Regisseur hinter uns die Stimme erhob.
„Turn please, show me your face“ sagte er.
Unwillkürlich drehte ich mich. Außer dem Brummen der Scheinwerfer waren alle Geräusche verstummt, kein Mucks aus den Reihen der Crew. Der Mann musterte mich lange. Dann schien er zu einem Schluss zu kommen.
„You’re not a tourist“ sagte er.
„I am an artist“ erwiderte ich ohne nachzudenken.
Er hob die Brauen: „Unpredictable folks, artists.“
„Ich bin keineswegs unberechenbar“
„Speak english!“ schnappte er.
„Never mind, I was just cursing“ log ich. „My knees hurt…“
Er ging nicht darauf ein. „How long will you be in town?“
„I don’t know yet. A month. Maybe two.“
„Would you be free to work with us? We have a sick actrice who needs to be replaced.“
Ich sah ihm ins Gesicht. Seine Pupillen waren im Scheinwerferlicht winzig klein.
„Yes“ sagte ich. Noch eine Sekunde zuvor hätte ich nichts zu antworten gewusst. Er zeigte keine Überraschung, schnippte nur nach der Frau, die mir geholfen hatte: „The script!“
Er reichte mir einen Packen gebundenes Papier: „You will be A*****. Read it. Work starts tomorrow at eight a.m., you’ll find the location on the back.“
Er wandte sich um.
„Excuse me!“ rief ich.
„What else?“
„I don’t even know your name!“
„Read the damned script tonight and you’ll know everything you need“ schnappte er.

Die ersten Seiten las ich schon im Taxi. Als ich später mein Gemach betrat, fiel mir dieses Buch mit dem geschwärzten Titel wieder ins Auge, das seit meiner Ankunft hier auf dem Tisch liegt. Einem jähen Impuls folgend, schlug ich es auf: es beginnt mit exakt den gleichen Sätzen wie das Drehbuch, das ich gerade in Händen halte.
Lieber Doktor, ich bin sehr, sehr verwirrt. Wären Sie doch nur hier! Ich vermisse Ihre Stimme; ich verstehe das alles nicht. Ich möchte nicht involviert sein. Je weiter die Nacht voran schreitet, desto größerer Zweifel befällt mich. Soll ich morgen dorthin gehen?

Zum offenen Fenster hinaus fragend,
Ihre, doch vielleicht eine andere
L.

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