Erster Brief. L. kommt nach K**** und greift zur Flasche.

K****, 10. Juni 2010

Lieber Dr. Sago,

ist es wirklich erst einen Tag her, dass Sie mir die Hand zum Abschied reichten? Die geben Sie mir selten. Ich war überrascht, wie trocken sie war. Ja. Eine feste, trockene Hand, wie mit Magnesium eingerieben. Ich kenne diese Glätte von früher, aus der Turnstunde. Kaum, dass ich merkte, wie Sie, als Sie meine ergriffen, mit zwei Fingern rasch über mein Handgelenk strichen. Ich soll wissen, Sie kümmern sich, nicht wahr? Deswegen auch Ihre dringende Bitte, ich möchte Ihnen Bericht erstatten.
(Haben Sie denn nicht langsam genug von mir?)
Die ganze lange Reise über war ich in Trance. Die sich fortsetzte, als ich mein Gepäck abstellte und nach der Flasche griff, die ich im eisig gekühlten Vorratsraum fand, die Flüssigkeit wie Wasser hinunterstürzend. Sie fuhr mir unmittelbar in die Blutbahnen, glaube ich … ich muss schnell eingeschlafen sein, denn eben, als ich erwachte, war es bereits Abend. Jemand hat meine Kleidung in den Schrank gehängt. Die Vase auf dem Holztisch ist voller Pfingstrosen jetzt, rosafarbene; die mag ich am liebsten. Die Blüten sind aber noch vollständig geschlossen. Ein recht dickes Buch liegt nun da, Titel und Autor geschwärzt, wie ich verwundert feststellte. Ich sah eben kurz hinein, ein Briefwechsel, doch ich bin zu müde, darin zu lesen. Sie werden mir gewiss nicht schreiben. Wie auch? Ich habe Ihnen die Adresse nicht genannt. (Oder doch? Ich erinnere mich nicht.) Ich wüsste gerne, wer mir die Reisekleidung ausgezogen hat.
Im Nebenhaus singt ein Mann, arabisch, glaube ich, ein Singsang eher. Er bricht immer wieder ab, als sei er in Bewegung. Ah! Jetzt verstehe ich: ein Gebet. Er wirft sich zur Erde…
Es ist so heiß auf den Straßen hier, dass der alle paar Stunden einsetzende Regen verdampft, sobald er den Asphalt berührt. Ich werde ohne Schuhe in die Nacht gehen.

Bis morgen.
Ihre
L.

10 Gedanken zu „Erster Brief. L. kommt nach K**** und greift zur Flasche.

    • Die Floristin meinte, man müsse die Knospen der frühen Pfingstrosen unter einem Wasserstrahl von dem ihnen eignenden ‘Klebstoff’ befreien, damit sie sich öffnen, aber so wie sie sind, sind sie auch schön. Das nehme ich allerdings persönlich .)

    • Nun, da ich es bei Ihnen geschrieben sehe, wird mir bewusst, dass ‘persönlich nehmen’ ein Akt des Verbindung aufnehmens ist. So, wie es im Sprachgebrauch oft verwendet wird, schwingt immer ein fast aggressives Beleidigtsein darin mit – schade eigentlich, denn als Ausdruck von Aneignung hat ‘persönlich nehmen’ viel mehr Potential.

  1. Ich hatte es einmal mit einem Künstler zu tun, der seine Photos als aufgewickelten Filmstreifen in der Dose feilbot, worüber selbstverständlich und provoziert die Diskussion entbrannte, worin nun eigentlich die Kunst bestand: im Verborgenen oder gewagt Offenbarten oder ausschließlich im Neugierigen? Der Zeitgenosse schrub den potentiellen Käufern nichts vor, was einen wiederum an die Auseinandersetzung zwischen autoritärer und laissez faire Erziehung erinnern ließ, die beide, treffen sie auf einen sensiblen Geist, ihn in einer verzweifelten, da er sich von da und dort unbegrenzten Situation alleine gelassen fühlen muss. Der Anstoß, das Anstößige macht den Rahmen, sogleich auch den abgründigen Rand sicher und behaglich. Es gibt Zeiten, in denen ich dem Versprechen einer geschlossenen Knospe erliege, aber auch jene andere. Mehr geht beim besten Willen nicht!

    • Die Kunst besteht darin, dass sie behauptet wird, gerade bei solchen Ansätzen. Finde ich. Ich könnte mir auch vorstellen, als Künstler sagen wir zehn Einmalkameras zu kaufen, die zwanzig Fotos zu machen, die jeweils pro Kamera möglich sind, und dann die Kameras als solche durchnummeriert als Edition anzubieten. Die Bilder gar nicht entwickeln. Sondern pro Kamera eine Geschichte dazu anbieten. Natürlich müsste diese ‘Rahmengeschichte’ richtig sitzen, um aus diesen Billigobjekten geheimnisvolle Reservoirs werden zu lassen.
      Es wäre dem Käufer überlassen, ob er den Film entwickeln lässt, oder ob es ihn mehr reizt, sich ‘nur’ vorzustellen, was auf den Fotos zu sehen wäre.
      Womit wir wieder bei den Knospen sind, die manchmal mehr assoziativen Reiz entfalten, wenn sie sich aufzublühen weigern. Weil sie damit die Zeit anzuhalten scheinen und ihren Verfall.

  2. B*** “Heute, in ***, wo mich keiner kennt, wo ich sogar, außer am Schalter für postlagernde Briefe, unter einem falschen Namen lebe, werde ich allmählich zum Skandal von K***:man zeigt schon mit dem Finger auf mich, soviel unternehme ich. …”

    • Wer unter “man”… subsumiert wird, den braucht keine zu b e r ü c k s i c h t i g en (einer von zehn Fällen).

      An dem Zitat (Fingerzeig) gefiel mir zweierlei: K*** und die “postlagernden Briefe”. 🙂

    • Subsumiert werden ist in neun von zehn Fällen unangemessen – und selbst für letzteren fiele mir spontan kein erfreuliches Beispiel ein.

      Danke für den Fingerzeig – Sie sehen, ich bin ihm gefolgt, wie angekündigt. *lächelt*

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