Schwester, zu schnüren

Ich denke viel über Beeinträchtigungen nach in diesen Tagen. Beschädigungen? Nein, zu hart. Bleiben wir bei Beeinträchtigungen, allein schon, weil das Wort suggestiver, unheimlicher daherkommt durch die aufeinander folgenden Vokale: Be-ein… und so weiter. Kann man sich auf der Zunge zergehen lassen.
Am Umstand der Beeinträchtigung (oh, nicht nur »Eintracht« steckt darin, auch »trächtig« und »Tracht«, eben seh’ ich’s!) interessiert mich vor allem die Freiwilligkeit: Jene, die ihr unfreiwillig zum Opfer fallen, lasse ich hier außen vor. Wer will schon über Opfer nachdenken? Ich nicht, Sie sicher ebensowenig. Zu viele Beeinträchtigungen gibt es, die schwer sind, auch dramatisch, und jede von ihnen hat diese Keule im Gepäck: »Achte mich! Bedaure mich.«
Nee, bloß damit nicht anfangen. Ich hab ne Freundin (ja, tatsächlich Freundin, nicht ich in Verkleidung), die trägt so heldenmütig an ihren derzeitigen Blessuren, da erübrigen sich alle Übersetzungsversuche, alle Mutwilligkeiten. (Schon wieder ein merkwürdiges Wort: »Mutwillig«)
So, Schluss mit den Klammern im Text. Ab sofort hört das auf, versprochen! Die Einzigen, die legitim Klammern verwenden, sind Stephen King und Arno Schmidt. Lustige Kombination. (Eigentlich hätte ich das in Klammern setzen müssen.) (Huch, da ist es schon wieder passiert)
SCHLUSS!

Also, folgendes: Ich interessiere mich neuerdings für freiwillige Handicaps. Das zeitliche Zusammentreffen mit realen Geschehnissen ist dabei reiner Zufall, glauben Sie mir.
– Die da wären, fragen Sie.
– »Die Handicaps?« frage ich.
– Ja.
– Na, der Entzug von liebgewohnten Sachen. Entzug von Luft beispielsweise. Von Licht. Schlaf. Normalität. Bewegungsfreiheit. Von Essen. Jetzt wird’s schon fast ein bisschen viel, nicht wahr? Bleiben wir also bei einem, bleiben wir bei:
Luft.
Noch nie hat mich Luft so interessiert wie in diesen Tagen. Das liegt natürlich an meiner Schnürung: Damit steht und fällt die ganze Sache. Mit dem Zusammenpressen von Fleisch an seiner schwächsten Stelle.
Früher trug man ja Leibchen.
Erinnern Sie sich an Leibchen?
Sie waren hautfarben und mit einer akkuraten Reihe kleiner Metallösen und Häkchen zu schließen. Meine Großmutter trug sie, bis sie ins Grab sank. Die vornehme. Meiner Land-Großmutter wären solche Sperenzien nicht im Traum eingefallen.
Also, Leibchen. Vor allem, da ich momentan selbst eines trage, das enger nicht sein könnte. Und feststelle: ui! Gefällt mir. Dieses wenige an Luft. Ich hechle, ich bin ohne Zweifel beeinträchtigt. Und wie undwie undwie. Der Luftmangel macht mich schwindeln. Diese ungewohnte, knackige Festigkeit in der Körpermitte indes gibt mir einen Gang… einen Gang, sage ich Ihnen, als schritte ich über den (kürzlich in Sachen Fleisch etwas überlasteten) roten Teppich. (Wer die Anspielung nicht verstand: Zur gestrigen Oskar-Verleihung in Hollywood trugen fast alle Damen fleischfarbene Roben, las ich vorhin)
(Oh. Die Klammern haben sich wieder eingeschlichen.)
Wie auch immer – meine enge, künstlich ins Wespenformat gezwängte Taille ist ein Hit, ein Märzhit. Nun sinniere ich nur noch, wie ich meinem momentan grauen, zweckmäßigen Stützgerät nach der vorgeschriebenen Zeitspanne ein anderes folgen lassen könnte.
Es sei schwarz, es sei – Korsett. Und es habe anstelle von (röchel) Klettverschlüssen eine Schnürung. Gerne eine, die ohne fremde Hilfe zu öffnen ich nicht imstande wäre.

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——————————————————–Korsettquelle: http://shop.geschnuert.de

6 Gedanken zu „Schwester, zu schnüren

  1. Sehr vernünftige Entscheidung… Schwarz ist die Einsteigerfarbe schlechthin. Kann man nix falsch machen, passt zu allem, selbst bei nicht gefallen, leicht Second Hand zu vermarkten.
    Die beste Agswahl gibt’s in Berlin.

  2. Ich hatte kurz überlegt, Kafkas “Hungerkünstler” in mein Blog zu stellen, angesichts der Länge aber eine Vertagung beschlossen und anstelle dessen einen kürzeren Text gepostet.
    Sind oder sehen sich Beeinträchtigte als Opfer ? Das läßt sich zwar ab und an kaum vermeiden, wenn es wie in meinem Fall konkrete Verursacher gibt, dennoch wehre ich mich permanent gegen die Opferrolle. Denn Opfer zu sein, heißt eben auch, der Gesellschaft in der Versagung vollkommener Teilhabe Recht zu geben. Und das wäre nun das Letzte, was ich freiwillig täte.
    Was mir noch fernläge : freiwillige direkte Beeinträchtigung, wiewohl ich der mit den entfernteren Folgen – Rauchen, Kaffee, Tee – durchaus recht gewissenlos fröne. (Unterwäsche und Korsettagen werden überwertet ;), um einmal der Verklammerung anheimzufallen [was aber hier eher ironisch {ohne die ursprüngliche Schreiberin verletzen zu wollen} gemeint ist]). LG tinius

    • @tinius Hungerkünstler sind faszinierend, aber unsexy. Nicht, dass das bei Kafka eine Rolle spielte.
      Was nun die Beeinträchtigungen anbelangt und wie mit ihnen umzugehen ist: In Deinem Fall – so wenig ich davon weiß – war die Verweigerung der Opferrolle vielleicht lebens- wenn nicht gar überlebensnotwendig. Mir ging’s in meinem Text aber um temporäre Handicaps; um paradoxe Intervention im weitesten Sinne. Mich interessiert das: Die eigene Verfasstheit austricksen. Als künstlerischer Akt, nicht als therapeutische Handlungsanweisung von außen wohlgemerkt, obwohl mich auch das unter Umständen reizen könnte.

  3. Besserwisser Ein hervorragendes Korsett, aber sexier als das graue mit Klessverschluss. Ich kann Rigby & Peller empfehlen, aber die sind halt in London.

    Weil ich manchmal ein unverbesserlicher Besserwisser bin, darf ich sagen, das ein Leibchen kein Morsett war oder ist, sonder ein aermelloses Unterhemd?
    http://de.wikipedia.org/wiki/Leibchen
    (Ich hab mich da ans Maerchen von den Sterntalern erinnert, wo das hochselbstlose kleine Maedchen die Talen in sein Leibchen sammelt)

    Jene korsettsame Sache, die man frueher trug, was das Mieder (auch ein tolles Wort, und auch ich bin rettungslos der Magie der Klammer {und der Magie des gedruckten Wortes} verfallen).
    http://de.wikipedia.org/wiki/Mieder

    • @semiothicghosts Ach! Ich ahnte es. Die Sache mit dem Leibchen. Und dass, was ich momentan trage, keines ist und nie eines sein wird, so sehr mir das Wort auch gefällt. Doch solange Semiothicghost »Morsett« statt Korsett schreibt (selbst wenn’s der Eile geschuldet), mache ich keine Änderungen am Text. Sò.

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