Auf meiner Couch (ich habe sie mir von meinem ersten Roman-Vorschuß gekauft) liegt ein Tuch mit Paisleymuster. Meistens lese ich auf dieser Couch, die Füße auf den Polstern und mich gegen die Seitenlehne lehnend. Um diese Seitenlehne etwas zu schonen, lege ich immer zusammengefaltet das Paisleytuch darauf. Manchmal, wenn es kalt ist, hülle ich mich auch in es hinein. Das mache ich seit drei Jahren. Mir wird in diesen Tagen allerdings immer eher mulmig, wenn ich das Tuch in den Händen habe.
Die Person, die mir das Tuch geschenkt hat, heißt Parastou Forouhar. Parastou Forouhar geistert gegenwärtig durch die Medien als „in Deutschland lebende Künstlerin, die im Iran festgehalten wird“. Normalerweise lebt sie in Offenbach, kaum drei Kilometer von mir entfernt, wenn sie nicht unterwegs ist zu ihren zahlreichen Ausstellungen. Parastou Forouhar ist international bekannt, sie war in New York, Istanbul, Wien zu sehen, sie hat für den Deutschen Bundestag ausgestellt, und wir beide haben uns 2006 als gemeinsame Stipendiaten in der römischen Villa Massimo kennengelernt, der bekanntesten deutschen Kultureinrichtung im Ausland.
Auf meinem Tuch, das ich jetzt bei beginnendem Winter öfter brauche, sind keine Figuren zu sehen, nur das Ornamentmuster. Parastou Forouhar ist eine Künstlerin, die oft mit Ornamenten arbeitet. Ihre Ornamente aber sind, im Gegensatz zu meinem Tuch, bei näherem Hinschauen immer figürlich. Sie tun sich grausame Dinge an. Geht man auf Parastou Forouhars Internetseite, wird man von einem Figurenpaar empfangen, die eine Figur ist an den Händen gefesselt, ihre Augen sind verbunden, die andere geht umstandslos auf sie zu, mit einer Gewalt, die nicht nach Wut, sondern nach Routine aussieht, und drückt zuerst ihren Kopf nieder, dann die ganze Figur selbst und drückt zum Schluß der nun am Boden liegenden Figur das Knie in den Hals. Es ist eine ganz kurze Animation, und sie beginnt jedesmal neu. Es hört nie auf.
Die Geschichte Parastou Forouhars hat mich immer eigenartig berührt. Ich kannte ihre Familie aus der Zeitung schon lange vor meinem Villa-Massimo-Stipendium, damals war ich noch gar kein Schriftsteller gewesen. Es war die Zeit, als ich an meinem ersten Roman schrieb, 1998. Es gab damals eine ganze Reihe von Morden unter iranischen Intellektuellen, und irgendwann wurde sogar ein ehemaliger Minister ermordet, ich erinnere mich daran, es war eine Zeit des Schlachtens, als seien sie alle vogelfrei geworden auf einen Schlag. Man war damals im Westen ziemlich schockiert, und es riß eine ganze Weile nicht ab. In der Villa erfuhr ich, daß der ermordete Ex-Minister Parastou Forouhars Vater Dariush war, auch die Mutter, Parwaneh Forouhar, war am selben Tag ermordet worden, mit zahllosen Messerstichen. Man kann im Internet Ausschnitte von Parastou Forouhar am Grab ihrer Eltern sehen, es sind erschütternde Bilder. Ich bin bei diesen Ausschnitten immer unmittelbar an Fritz Lang erinnert, wie er in den Nibelungen Kriemhilds Trauer in Szene setzt. Aber das eine ist Kunst, und das andere ist passiert.
Parastou Forouhars Lebensgeschichte ist aber, bei aller Grausamkeit, zu dringlich, um sich in pathetische Worte zu verlieren. Da muß man eher verkargen (wie es Parastou Forouhar in ihrer Kunst auch stets tut, meistens sind es ja nur noch Strichmännchen, die bei ihr die schlimmsten Dinge ausüben, foltern und morden). Mit der Zeit begriff ich, daß sich Parastou Forouhar von allen anderen Menschen, die ich kenne, unterscheidet. Ich meine nicht diesen unbändigen Willen zu leben, und zwar mit Freude zu leben, als sei jeder Tag ein Fest, ich meine auch nicht Parastou Forouhars Ernsthaftigkeit im Handeln und diese Selbstsicherheit und Gradlinigkeit im Tun, die, auch wenn sie von der Ermordung ihrer Eltern herrührt, einen künstlerisch manchmal geradezu neidisch machen kann. Nein, ich meine vor allem die Kraft, die all das kostet. Vielleicht begriff ich damals zum ersten Mal, welche Kräfte einem zuwachsen müssen, wenn es solche Umstände erfordern. Im Deutschen gebraucht man dafür das Bild vom Über-sich-Hinauswachsen. Nicht, daß ich gedacht hätte, daß Parastou Forouhars Leben durch den Mord an ihren Eltern gebunden war oder daß ihr dieser Mord so etwas wie ein Ziel eingab. Nein, ich sah jemanden vor mir, der ganz natürlich einfach so handeln mußte, wie er handelte. Und sie ist daran nie zerbrochen, sondern immer gewachsen.
Der erste Schritt war der Versuch, die Morde aufzuklären. Die Prozesse ließen auffällig viele Fragen offen. Die vergeblichen Versuche, vor Gericht die Hintergründe aufzudecken und die Auftraggeber zu ermitteln (angeblich hatten Geheimdienstmitarbeiter die Morde ohne Auftrag verübt), kann man auf Parastou Forouhars Internetseite nachlesen. Dann begann Parastou Forouhar, alljährliche Gedenken für ihre Eltern am Todestag, am 29. November, zu organisieren, die sich anfänglich zu Massentreffen entwickelten, überall auf den Straßen um das Haus der toten Forouhars herum, es kamen zahllose Menschen. Dem Staat war das offensichtlich ein Dorn im Auge. Die Treffen wurden immer größeren Reglementierungen unterworfen, zum Schluß wurde sogar untersagt, daß sich die nächsten Betroffenen zu einem kleinen Treffen im Haus der Eltern zusammenfinden. Dennoch fährt Parastou Forouhar jedes Jahr im November in den Iran, um dieses Gedenken zu ermöglichen. Sonst sterben ihre Eltern, wie sie sagt, noch einmal.
Nach Teheran gehen, bedeutet für mich, zu einem Friedhof zu gehen, hat sie einmal gesagt. Diesmal wurde ihr also bei der Ausreise der Paß entzogen. Man hat ihr mitgeteilt, den Behörden gefalle nicht, wie sie in im Ausland Interviews über die Zusammenhänge um den Tod ihrer Eltern rede. Ob sie ihren Paß in den nächsten Tagen zurückbekommt oder nicht, bleibt abzuwarten. Es ist zu wünschen, daß diese Situation nicht eskaliert. Worum es Parastou Forouhar allein gehen kann, ist nicht eine fluchtartige Ausreise, sondern eine Lösung, die ihr nicht nur ermöglicht, zu ihrer Familie nach Offenbach zurückzukehren, sondern auch weiterhin auf gesicherte Weise in den Iran und in das Haus ihrer Eltern zurückkehren zu können.
Andreas Meier. Chapeau! Der Text ist sowohl informativ, als auch persönlich berührend. Spricht mir aus der Seele und macht mir auch wieder klar wie besonders es ist – in Parastous Lage wird’s deutlich – Künstler als Freunde zu haben.