Eine kurdische Politikerin sollte vereidigt werden als neue Abgeordnete im türkischen Parlament, erzählt meine Freundin X. Ihren Eid hatte sie auf kurdisch gesprochen, wohl wissend, dass ihre Sprache in diesem Zusammenhang verboten und ein Tabubruch war. Gleich danach wanderte sie ins Gefängnis, wo sie seit acht (!) Jahren inhaftiert ist.
Imponiert mir nicht sehr, sage ich, jetzt sitzt sie im Knast und kann für ihre Landsleute nicht mehr das geringste ausrichten. Hätte sie nicht besser daran getan, die türkische Regierung nicht wegen akuten Gesichtsverlusts in Zugzwang zu bringen und stattdessen zu versuchen, in parlamentarischer Arbeit die Anliegen ihrer Landsleute zu vertreten?
Nein, wäre es nicht, sagt X. Man braucht die Schaffer, und man braucht diejenigen mit der großen Geste: Sie öffnet Räume, die andere dann besetzen können. Selbst wenn die mit der großen Geste unsympathisch wirken.
Unsympathisch wirken? Interessant. Ja, warum eigentlich? Warum ist mir die große Geste so schwer verdaulich? Die Frage ist, welche Hebel man zur Verfügung hat, um die eigene Auffassung in der Welt zu manifestieren? Ich will diejenigen außen vor lassen, die, aus welchen Gründen auch immer, weder den Weitblick noch die geistigen Voraussetzungen besitzen, sich ihrer Alternativen bewusst zu sein. Vielleicht, weil sie schlicht keine haben. Über die existenziellen Entscheidungen dieser Leute kann ich überhaupt nichts sagen.
Wohl aber über meine. Ich empfinde eine Art Hassliebe für die große Geste.
Als Schröder zum Beispiel sagte, Putin sei ein lupenreiner Demokrat: Jeder wusste, das konnte nicht stimmen, auch Schröder selbst musste es wissen, Männerfreundschaft hin oder her. Warum hat er’s also gesagt? Und warum ist dieser Satz immer noch präsent im kollektiven Gedächtnis, während andere, weit bessere, klügere, längst verschwunden sind?
Die großen Gesten – auch unsere westlichen – entwickeln eine unverwechselbare Art von Energie. Man könnte sie fast magisch nennen. Die Erinnerung daran (und man muss sich natürlich klar sein, dass nur das zählt: In welcher Form sich Handeln im Gedächtnis ablegt. Denn wie viele Leute sind schon live dabei, wenn eine große Geste gemacht wird? Sie entsteht erst in der Rekonstruktion) – die Erinnerung daran ist meistens mit Genuss verbunden.
Man freut sich daran, dass diese ‚Popstar-Erinnerung’ so klar konturiert ist. Dass man auch im Rückblick noch weiß, welche Meinung man dazu hatte. Die Geste hat zum Zeitpunkt ihrer Ausführung polarisiert und tut dies auch Jahre später noch. Das ist ihre Verführung: Sie lässt sich gut merken; sie behält ihre Kontur. Angela Merkel fährt während Schröders Regierungszeit zu Busch, um zu signalisieren, dass ihre Partei und damit (vermeintlich) die Hälfte des deutschen Volkes die „Keine Panzer im Irak“-Politik der SPD nicht mitträgt. Ich fand ihr Verhalten damals abstoßend. Gemerkt habe ich es mir aber, im Gegensatz zu vielen Entscheidungen, die sie seitdem getroffen hat.
Meine Hassliebe für die große Geste: Eifersucht auf ihre Prägnanz und Nachhaltigkeit, Ablehnung angesichts ihres vereinnahmenden Wesens. Denn sie spricht zu oft für viele, sie repräsentiert. Und ich frage mich immer, ob die Mitrepräsentierten überhaupt gefragt worden sind, ob sie das wollen.
Welche Mittel stehen uns zur Verfügung für ein solches Superzeichen des Verhaltens, als Privatpersonen? Für welchen Kontext wäre es wünschenswert? Leute wie ich schreiben. Die große Geste fordert aber Vereinfachung – und die Fähigkeit, Erwägungen rechts und links, oben und unten auszublenden. Nur so wird Zuspitzung möglich. Natürlich kann man den Körper als Verstärker benutzen. Besonders auffällig sein, besonders schön oder hässlich, besonders trainiert oder manipuliert, besonders laut. Oder tausend andere Sachen. Doch solange der Körper nicht öffentlich einhergeht mit der Botschaft, das heißt gleichzeitig mit der Botschaft präsent ist, nutzt er nicht viel.
(to be continued)