»Der bedeutende Denker (…) wäre jener, der eine entscheidende Einsicht oder Idee hat und sie ausschöpft, der eine maßgebliche Entdeckung macht, einen zentralen Zusammenhang sieht; der fast ‘habsüchtig’ in einen Denkakt, eine Beobachtung und den darin enthalteten Keim investiert, das volle Potential nutzt. (…)
Wohingegen die große Mehrheit der Menschen, selbst wenn sie, sozusagen im Vorübergehen, von erlesenen Gedanken oder grundlegenden Beobachtungen gestreift sind, diesen keine Beachtung schenkt, weder zugreift noch übergeht zu ihrer Umsetzung. Wie viele Erkenntnisse gehen verloren in der gleichgültigen Flut unbeachteten Denkens, im ungehörten oder überhörten Selbstgespräch der täglichen und nächtlichen Hirnemissionen?
Warum sind wir nicht in der Lage, die möglicherweise fruchtbare Spannung, die von den immer wachen Bögen und Synapsen unserer geistigen Natur erzeugt wird, zu fassen und sie – wie bei einer elektrischen Batterie – in konzentrierter Form, als Potential, zu speichern? Es ist genau diese unendlich verschwenderische Erzeugung, für die wir bisher keine Erklärung haben. Der Verlust ist maßlos.«
George Steiner »Warum Denken traurig macht«, Suhrkamp 2006